Agentin Dr. Marion Strunk gehört in der Agentur Crosscomm zur Abteilung Theoretical Support. Sie versieht uns regelmässig mit Texten zum Thema Erinnern und Vergessen.
1: Mnemoric
2: Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleid (Sören Kierkegaard, 1843)
3: Vergessen
4: Walter Benjamin - Das Penelopewerk des Vergessens (1929)
5: DONNA HARAWAY - aus einem Interview mit Constance Penley & Andrew Ross in Technoculture
6: TONI MORRISON aus "Sehr blaue Augen"
DONNA HARAWAY
aus einem Interview mit Constance Penley & Andrew Ross in Technoculture
Andrew Ross: Sie scheinen in Ihren Arbeiten immer häufiger mit
den textualistischen und konstruktionistischen Positionen zu sympathisieren,
es ist aber auch klar, dass Sie den Weg des geringsten Widerstandes, den
radikalen Konstruktionismus, ablehnen, der alle wissenschaftlichen Ansprüche
hinsichtlich der Welt der Objekte bloss fur überzeugend klingendes
Gerede betrachtet, stark oder schwach, je nach institutionellem Erfolg bei
der Verteidigung der Legitimität der eigenen Ansprüche. Ihre Ansicht
scheint zu sein: dort liegt der Wahnsinn...
Donna Haraway: Oder dort liegt die Zynik, oder dort liegt die Unmöglichkeit
der Politik. Das ist es, was mir Sorgen macht.
Andrew Ross: Und wie kann man Ihrer Ansicht nach politisch normal
bleiben?
Donna Haraway: Politik beruht darauf, dass eine gemeinsame Welt möglich
ist. Ganz einfach. Politik beruht auf der Möglichkeit, dass man einander
gegenüber verantwortlich ist, auf eine nonvoluntaristische Weise, nach
dem Motto 'Ich fühle mich heute danach'. Sie beruht auf dem Gefühl,
dass man in gewisser Weise unter der Kruste einer Muschel in die historische
Welt tritt. Metaphorisch gesprochen stelle ich mir eine historische Person
wie einen Einsiedlerkrebs unter der Kruste einer Muschel vor. Und ich sehe
mich selbst und alle anderen als Krebse, die ihre Behausungen wechseln,
wenn sie wachsen.[Lachen]
Jede Muschel, die wir finden, hat ihre Geschichten und man sucht sich diese
Geschichten nicht aus da haben wir das Argument von Marx, dass man Geschichte
nicht auf eine Weise macht, die man
sich aussuchen kann. Man ist für die Kruste der Muschel verantwortlich
und die Trägheit, ebenso wie man einander gegenüber verantwortlich
bleiben muss, indem man lernt, zu bedenken, welche Muschel man sozusagen
trägt. Für mich ist das eine relativ geradlinige Art, einen zynischen
Relativismus zu vermeiden, während man noch immer dem Zufall verhaftet
ist.
Constance Penley: In einem Essay über die Geschichte des Geschlechterkonflikts
argumentieren Sie, dass es eine der unglücklichen Folgen der antiessentialistischen
Haltung des konstruktionistischen Feminismus sei, die Biologie (die Sie
mit der'Sexual'seite des Geschlechterkonflikts gleichsetzen) als Untersuchungsbereich
zu unterschätzen, wo sie doch ein viel stärker zu berücksichtigender
Ort zur Anfechtung von Definitionen der 'Natur', die die Frauen recht unmittelbar
betreffen, hätte sein sollen.
Es ist uns klar, wo eine weitere Untersuchung der Biologie für die
Aufdeckung von historischen und ideologischen Verbindungen zwischen 'Natur'
und 'Weiblichkeit' innerhalb der Naturwissenschaft sinnvoll ist, wir würden
aber gerne von Ihnen wissen, welche Rolle die Biologie Ihrer Meinung nach
in der zukünftigen 'Neuerfindung der Natur' spielen wird.
Donna Haraway: Das liegt mir sogar sehr am Herzen, denn da lauert
der Kryptobiologe unter der Oberfläche des Kulturkritikers. Der einfachste
Ansatz zu dieser Frage ist, daran zu denken, dass Biologie nicht der Körper
selbst ist, sondern ein Diskurs. Wenn man sagt, meine Biologie ist so und
so, oder ich bin biologisch gesehen eine Frau und daher habe ich die folgende
physiologische Struktur, so klingt dies, als spräche man von der Sache
selbst. Wenn wir uns aber immer wieder in Erinnerung rufen, dass die Biologie
ein logos ist, dass sie wörtlich genommen eine Versammlung ins Wissen
ist, lassen wir uns nicht ins Bockshorn jagen und dazu bringen, den Kampf
zugunsten des Diskurses aufzugeben. Ich stimme mit Foucault und anderen
überein, dass der biopolitische Modus der Kraftfelder bestimmt, was
im öffentlichen Leben zählt, was für einen Bürger zählt,
und so weiter. Wir können der Bedeutung des biologischen Diskurses
bei der Bestimmung von Überlebenschancen auf der Welt nicht entgehen
wer überlebt, wer stirbt, und ähnliches, wer wird Bürger,
wer nicht. Wir müssen daher im wahrsten Sinne des Wortes um die biologischen
Diskurse streiten, auch das birgt ungeheuren Spass in sich, und verstehen,
wie diese Diskurse angeregt und eingeschränkt werden, nach welchem
Modus der Praxis sie funktionieren. Wir müssen lernen, wie man Allianzen
mit Menschen bildet, die auf diesen Gebieten praktizieren, und dürfen
keine reduzierenden Schachzüge machen. Wir können uns die Kritik
des technologischen Rationalismus, die vom 'eindimensionalen Menschen' ausgeht,
nicht leisten, das heisst, wir können naturwissenschaftliche Diskurse
nicht ins Andere verkehren und zum Feind machen, während wir noch darum
ringen, was die Natur für uns sein wird. Wir müssen uns auf diese
Begriffe der Praxis einlassen und der Versuchung widerstehen, rein zu bleiben.
Man tut das als endliche Person, die Biologie nicht praktizieren kann, ohne
Verantwortung für Muschelbehausungen zu übernehmen, denen ja die
Biologie als zentraler Gedanke für die Konstruktion von Körpern
mit bestimmter Rasse oder bestimmtem Geschlecht entspricht. Man muss für
den Diskurs von innen kämpfen, Verbindungen zu anderen Bereichen bauen.
Das ist ein kollektiver Prozess, wir können als Kritiker von aussen
nichts erreichen. Gayatri Spivaks Bild vom Weberschiffchen, das zwischen
innen und aussen hin und herpendelt, die Begriffe verschiebt und damit neue
Möglichkeiten eröffnet, ist in diesem Zusammenhang nützlich.
Constance Penley: Das bringt uns zur Rolle des Cyborg Manfesto bei
der 'Neuerfindung der Natur'. Eine der auffälligsten Auswirkungen des
Cyborg Manifesto war, dass der Bankrott der Vorstellung von der Natur als
resistent gegenüber dem patriarchalischen Kapitalismus verkündet
wurde, der die radikalfeministische Subkultur in Europa und Nordamerika
von den frühen siebziger Jahren bis in die Mitte der achtziger Jahre
dominiert hatte. Im technisch vermittelten Alltag des Spätkapitalismus,
so wiesen Sie hin, sei die Natur gegenüber der Ansteckung durch die
Technik nicht immun, sei die Technik in Form alltäglicher gesellschaftlicher
Beziehungen Teil der Natur und sollten vor allem Frauen lieber anfangen,
sich die Technik zunutze zu machen, bevor sie von der Technik benutzt werden.
Mit anderen Worten, wir brauchen den Technorealismus als Ersatz für
einen phobienbehafteten Naturalismus. Sehen Sie die CyborgFormulierung der
Dichotomie Natur/Technik als abweichend von oder ähnlich gelagert wie
die Dichotomie Natur/Kultur, mit der Sie sich als Wissenschaftshistorikerin
viel beschäftigt haben?
Donna Haraway: Ein interessanter Blickwinkel. Ich weiss nicht genau,
was ich darauf sagen soll. Was ich in dem CyborgStück, in den von Ihnen
erwähnten Passagen versucht habe, war meinen und unseren Standort im
Bauch des Monsters, in einem technostrategischen Diskurs im Rahmen einer
stark militarisierten Technik, zu bestimmen. Die Technik legt fest, was
entscheidend ist, was als unser Körper zählt zum Beispiel in
der Entwicklung der Molekularbiologie. Nach dem Projekt über menschliche
Genome werden wir etwa zu einem speziellen Text, der auf Codefragmente reduziert
werden kann; diese werden in überregionalen Datenbanken gespeichert
und auf alle möglichen Arten verteilt, was grundlegende Auswirkungen
auf Vermehrung und Arbeit und Überlebenschancen hat. Auf einer extrem
tief liegenden Ebene wurde die Natur für uns im Bauch einer weitgehend
militarisierten, auf Kommunikationssystemen basierenden Technowissenschaft
in ihrer spätkapitalistischen und imperialistischen Form rekonstruiert.
Wie kann man sich aus dieser Position als Kämpfer für die Natur
sehen? Auf eine perverse Art, die, glaube ich, von dem Masochismus herrührt,
den ich als Katholikin gelernt habe, gibt es ausserdem immer dieses Verlangen
danach, vom gefährlichsten Platz aus zu operieren, seinen Standort
nicht ausserhalb, sondern im Bauch des Monster anzusiedeln.
[Lachen] |