Interview mit Stefan Banz von Thomas Wulffen

Thomas Wulffen: Die Arbeit für das Gefängnis war ein
Kunst-am-Bau-Wettbewerb, den du gewonnen hast. Was ist das genau für ein
Ort?
Stefan Banz: Das ist ein neues, 1998 fertggestelltes, kantonales
Gefängnis, ein Bezirksgefängnis, aber vor allem für
Untersuchungshäftlinge. Alle, die in einem Strafverfahren stehen, werden
hier untergebracht oder wenn die Strafe auf zwei Jahre begrenzt ist.
Diesem von Grund auf neu konzipierten Gefängnis ist gleichzeitig das
Untersuchungsrichteramt angegliedert.
Wulffen: Bezieht sich deine Arbeit auch auf diesen Bereich?
Banz: Die Arbeit ist eigentlich zweiteilig. Im Gefängnisteil liess ich
einundfünfzig persönlich ausgewählte Namen von Persönlichkeiten, die im
Gefängnis waren mit dem Titel eines ihrer Werke oder mit einer ihnen
zugeschriebenen Bezeichnung an die Wände applizieren. Im
Untersuchungsrichteramt - in der Schweiz heisst das Amtsstatthalteramt -
liess ich entsprechend dreiundreissig Namen von Persönlichkeiten
anbringen, die sich für ein modernes Rechtssystem und einen humanen
Strafvollzug eingesetzt haben, zum Beispiel Cesare de Beccaria oder
Voltaire oder Olympe de Gouges.
Wulffen: Das heißt, daß es einen öffentlichen Bereich gibt?
Banz: Ja, das Amtsstatthalteramt ist öffentlich. Die ganze Arbeit
breitet sich da in den Treppenhäusern, Gängen und Warteräumen aus.
Im Gefängnis ist es so, daß es einen kleineren halböffentlichen Bereich
für Besucher und einen grossen geschlossenen Teil gibt. Die Arbeit ist
im Gefängnis in beiden Bereichen dort situiert, wo sich die
gemeinschaftlichen Passagen befinden wie Gänge, Treppenhäuser,
Spazierhof, Sporthof und so weiter. Nicht in den Zellen selbst.
Wulffen: Die Leute, die in den Inschriften benannt sind, sind doch zum
Teil langfristig Gefangene.
Banz: Das ist ganz unterschiedlich. Von sehr schweren Delikten wie
dasjenige von Caravaggio, der einen Mord begangen hat, bis zu Personen
wie Balzac, der nur fünf Tage wegen Beleidigung des Königs im Gefängnis
war. Oder Drogendelikte, wie bei Billy Holliday, Robert Mitchum und
Keith Richards, aber auch Sittlichkeitsdelikte wie in den Fällen von
Oscar Wilde und Alan Turing, die wegen Homosexualität verurteilt wurden.
Nicht zu vergessen die politischen Gefangenen, etwa Nelson Mandela, der
siebenundzwanzig Jahre im Gefängnis saß, oder in Anführungszeichen
Kuriositäten wie Henry Lee Lucas, der in den 70er Jahren in den USA über
200 Morde gestand, die er nie begangen hat. Dafür wurde er zum Tode
verurteilt und am 30. Juni 1998 beinahe hingerichtet. George Bush, der
Gouverneur von Texas und Sohn des ehemaligen Präsidenten hat ihn dann in
letzter Minute begnadigt. Ein grosses Spektrum ist berücksichtigt.
Wulffen: Also auch unterschiedlichste Epochen ?
Banz: Ja, unterschiedlichste Epochen, Delikte und Strafmasse. Von
Schlagersängerinnen und Künstlern bis zu Philosophen, Mathematikern und
Schriftstellern. Ich habe versucht, ein sehr breites Spektrum abzudecken
und viele verschiedene Sprachen miteinzubeziehen: Deutsch, Italienisch,
Französisch, Englisch, Tschechisch, Russisch, Türkisch, Lateinisch.
Wulffen: Warum ist diese literarische Ebene dabei? Du hättest ja auch
nur die Namen nennen können. Aber du machst einen Strich und verweist
auf einen Text.
Banz: Das hat zwei Gründe. Der eine Grund ist, daß ich sentimental bin.
Ich wollte eine poetische Note mit assoziativen und metaphorischen
Qualitäten. Es klingt einfach schön, wenn man «Mata Hari - Das Auge der
Morgenröte» liest und dabei in den manchmal blauen, manchmal grauen
Himmel hoch schaut.
Der andere Grund ist das Öffentliche einer Kunst-am-Bau-Geschichte und
die extreme Situation in einem Gefängnis. Ich wollte ein Stimulantium
erzeugen und die Möglichkeit schaffen, Inhaftierte und Besucher und
Polizisten und Richter etc. zu inspirieren. Wenn ich zum Beispiel ein
konkretes Werk benenne, wie «Don Quichote» von Cervantes, dann hat
vielleicht jemand Lust, das zu lesen, und er kann es sich in der
Bibliothek holen.
Die ganze Arbeit hat auch vieldeutige Komponenten: Wenn etwa im Sporthof
die Inschrift «Mohammad Ali - When We Were Kings» steht, dann wirft es
ein anderes, verändertes Licht auf die Situation, im Gefängnis zu sein.
Wulffen: Du hast gesagt, du wärst sentimental. Ist das nicht auch ein
Grundzug deiner gesamten Arbeit?
Banz: Ja, das ist es. Ich bin sehr sentimental.
Wulffen: In deiner Arbeit nimmt der private Bereich einen wichtigen Teil
ein. Der öffentliche Teil ist weniger präsent. In deiner Video-Arbeit
«Door to Door» hebst du die Dokumentation eines realen Geschehens auf
eine ästhetische Ebene.
Banz: Ich glaube, man muß hier verschiedene Aspekte unterscheiden. Zum
einen das Private und das Öffentliche, also das Individuum und die
Gesellschaft. Ich bin ein Individuum, eine exemplarische Existenz und
ich bewege mich innerhalb einer öffentlichen Gemeinschaft. Und wenn das
Private eine Rolle spielt, dann mache ich das aus diesem Gesichtspunkt
heraus. Wie verhält sich das ganz Private in bezug auf das Allgemeine?
Andererseits: Das Private hat ja zuerst auch eine ökonomische
Komponente. Ich bin als Künstler - der verheiratet ist, zwei Kinder hat
und in einem kleinbürgerlichen Milieu lebt - in der Kunstszene ein Exot.
Die Kunstszene wird in erster Linie nicht von den gesellschaftlichen
Traditionen - wie Gemeinschaft, Familie, Heterosexualität, Verantwortung
etc. - getragen oder bestimmt. Im existentiellen Kampf innerhalb des
Kunstkontextes ist man als verheirateter Familienvater auch unheimlich
angespannt, weil man bis zur Geldbeschaffung immer doppelt funktioniert.
Hieraus ergibt sich das Spannungsverhältnis zwischen Privatem und
Öffentlichem. Da kommt zuerst die ökonomische Überlegung. Wenn ich wenig
Zeit habe, mich meinen künstlerischen Interessen zu widmen, suche ich
nach einer Kombination. Dass ich begonnen habe, meine Kinder systematisch
zu fotografieren, hat mit dieser Ökonomie zu tun. Ich nutze das
Zusammenleben mit meinen Kindern, und ihnen macht es gleichzeitig
grossen Spass. Dazu kommt der übergeordnete Aspekt der Reflexion.
Als ich begann, diese Arbeit im wesentlichen so zu vollziehen, habe ich
aber sehr schnell gemerkt, dass es etwas ganz Unterschiedliches ist,
Etwas zu machen und Etwas zu zeigen. Dabei begann mich die Wahrnehmung
auf der Ebene des Mißverständnisses zu interessieren. Für mich ist das
Mißverständnis eine Art Hauptthema. «Door to Door» ist ein gutes
Beispiel dafür. Hier fragt man sich als Betrachter: Warum kommt dieser
Nachbar auf mich zu und verprügelt mich? Was ist der äußere Anlaß?
Vielleicht folgt die Spekulation, ich hätte mich vielleicht selbst zuvor
auf irgendeine Weise unkorrekt verhalten? Oder ist dieser alte Mann
vollkommen durchgedreht, weil er nicht weiss, was Kunstkontext heisst
und was ein Künstler tut? Er sieht ihn als einen Exoten, der in einem
normalen kleinbürgerlichen Umfeld fehl am Platz ist. Und dann folgt die
Frage: Ist das Festgehaltene echt oder ist es Fiktion? Eine typische
Grundfrage unserer Zeit, die dann noch zusätzlich irritiert, weil die
Gewalttätigkeit, die man aus den Medien kennt, mit der hier gezeigten
nicht übereinstimmt. Deshalb wirkt dieser Vorfall in «Door to Door» sehr
unwirklich, kurios und fiktiv. Das hat mit der Diskrepanz zwischen der
täglich massierten Darstellung von Gewalt in den Medien und der
unspektakulären Realität dieser Alltagsgeschichte zu tun, die jeder zu
verstehen glaubt, weil er meint, sie schon oft auch selbst vergleichbar
erlebt zu haben.
Die Gefängnisarbeit basiert bis zu einem gewissen Grad auch auf der Idee
des Mißverständnisses. Wie interpretiert man erstens die genannte
Persönlichkeit und zweitens das Werk, das darunter steht im Zusammenhang
mit der realen Situation Gefangenschaft? Wenn ich im Spazierhof «Nelson
Mandela - Long Walk to Freedom» schreibe, und ich weiß, daß dort
Gefangene in Einzelhaft herumgehen, dann hat das etwas total
Zwiespältiges.
Diesen Zwiespalt kann nur der Rezipient lösen, indem er eine
Entscheidung trifft, es positiv oder negativ wertet. Ich provoziere
diese Doppelebene und fordere den Betrachter auf, für sich selbst die
Entscheidung zu treffen, wie er diese Arbeit lesen möchte.
Wulffen: Dasselbe gilt doch auch für dich als Person. Du betreibst einen
Rollenwechsel, als Künstler und als Vater und Ehemann. Dazu kommt der
Rollenwechsel auch innerhalb des Betriebssystems Kunst. Du bist Künstler
und schreibst über Kunst. Ich finde diesen Aspekt gerade in einer doch
sehr konservativen Kunstszene sehr interessant.
Banz: Absolut. Ich würde auch behaupten, daß die Kunst eine extrem
konservative Disziplin geworden ist, die (nur noch) wenig Toleranz kennt
und ganz stark auf der Basis der Macht operiert. Es sind die alten
darwinschen Prinzipien, die maßgebend sind für die Entscheidung, was
rezipiert wird und was nicht.
Das Spektrum ist sehr klein. Ich glaube, daß die Kunst heute auch
vermehrt darüber nachdenken müßte, wie sie ihr eigenes Gesicht - ihre
Selbständigkeit - wieder zurückgewinnen könnte, weil sie momentan total
von anderen Kontexten lebt. Die Welt ist schnell geworden. Diese
Schnelligkeit holt sich die an sich langsame Kunst aus den Mechanismen,
die man kennt, zum Beispiel die der Filmbranche, des Sports, der
Popmusik und der Computerwelt. Die Kunstszene ist eine Userwelt, sie
nimmt sich ganz typische Elemente, die diese erwähnten Kontexte
bestimmen, macht sie sich zu eigen und komponiert oder kompiliert sie
zusammen. Dadurch bringt sie sich in eine große Abhängigkeit und hat es
schwer, ihre eigene Identität aufrechtzuerhalten oder sie neu
auszuarbeiten. Darin liegt ihr großes Dilemma.
Früher war der Starkult extrem verpönt. Die Popmusik war am Anfang noch
stark von der bildenden Kunst (Andy Warhol) inspiriert. Heute versucht
man umgekehrt die Qualität der Kunst mit den zum Teil 30 Jahre alten
Mechanismen (zum Beispiel des Starkults) der Popmusik zu propagieren.
Das finde ich grundsätzlich schade, weil es kein kreativer Akt ist. Es
ist ein Defizit, weil es eine Übernahme von etwas ist, was es schon
längst gibt und an anderer Stelle vehementer und besser vorgeführt
wurde.
Wulffen: Aber zeigt sich da nicht eher eine Verschiebung von der
Produktion zur Distribution? Der Starkult wird benutzt, um die Kunst
unters Volk zubringen. Die Kunst hat doch immer auf etwas
zurückgegriffen, was außerhalb lag. Sie hat die Welt abgebildet oder mit
wissenschaftlichen Mitteln in ihrem Rahmen verändert, aber sie war nie
so eigenständig, wie es vielleicht ihr Traum ist.
Banz: Ja, wenn man es positiv formuliert, könnte man es so sehen. Früher
hat die Kunst von der Idee gelebt, sie sei etwas Intellektuelles,
Elitäres. Heute möchte sie sich popularisieren, weil sie realisiert, daß
nur noch ein kleines Zipfelchen für sie übrig ist im ganzen Kontext der
Wahrnehmung. Wenn sie aber zu populär wird, kommt als Gegenreaktion
schnell der Vorwurf der Banalität. Das zeigt wiederum die Schizophrenie,
in welcher die Kunst lebt. Meine Arbeit hat auch mit den ähnlichen
Mechanismen von Realität und Fiktion oder von Authentizität und Fake zu
tun. Verhältnisse, die innerhalb der Kunstszene auch sehr heikel sind.
Die Kunstszene lebt von Darstellungen, hat gerne Metaphern, und Realität
ist für sie eher etwas Unangenehmes.
Mir wird oft vorgeworfen, man bekomme beim Betrachten meiner Fotos ein
schales Gefühl. Aber das schale Gefühl ensteht nur, weil man sich als
Rezipient nicht außerhalb der Bilder stellen kann. Weil sie aus der
normalen bürgerlichen Welt kommen, glaubt sie jeder zu kennen, und der
metaphysische, voyeuristische Blick funktioniert nicht. So identifiziert
man die Fotos mit sich selbst und das ist für viele unangenehm.
Gegen Ende des letzten Jahrhunderts, um 1880, hat Etienne-Jules Marey
die Bewegungsfotografie erfunden. Er hat eine Flinte konstruiert, mit
der er in einer Sekunde 24 Bilder machen konnte. Er ging wie ein Jäger
vor und schoss seine Bilder. Das inspirierte dann unmittelbar die Firma
Remington - siehe die wunderbaren Schriften von Friedrich Kittler - das
Maschinengewehr zu erfinden. An diesem Beispiel sieht man sehr schön den
Unterschied zwischen Echtheit und Simulation. Wenn man nicht simuliert,
dann hat das Konsequenzen fürs Leben und wenn man simuliert, dann hat es
eben keine. Was also hat die Kunst für eine Aufgabe?
Wulffen: Das muß ja nicht der Kritiker beantworten.
Banz: Ich kann die Frage auch nicht beantworten, ich weiß nur, daß sie
mich interessiert.
Wulffen: Wie situierst du deine kritische und deine kuratorische
Tätigkeit in diesem Umfeld?
Banz: Ich habe eine intensive kuratorische Vergangenheit: Der Anbau des
Museums, Larry Clark, Der Alb verlässt das Lager, Heimo Zobernig etc.
Eine Zeitlang habe ich versucht, meine künstlerische Arbeit gleichzeitig
zu machen, mußte aber dann einsehen, dass es schwierig ist. Da greifen
die alten Mechanismen der Kompetenzüberschreitung. Man tritt in des
Nachbarns Garten, der einem nicht gehört. Ich habe mich dann
entschieden, die kuratorische Tätigkeit zu Gunsten der künstlerischen
aufzugeben. Was das Schreiben betrifft, war ich im engeren Sinne nie
kunstkritisch tätig, nur kunsttheoretisch - theoretische Gedanken über
die bildende Kunst und deren Wahrnehmung. Das mache ich noch immer.
Diese Freiheit nehme ich mir. Wenn ich Lust habe, etwas zu formulieren,
dann mache ich das. Aber ich bin eigentlich seit 1993 nicht mehr
kuratorisch tätig.
Wulffen: Das ist ja einerseits gut und andererseits schlecht.
Banz: Negativ gesehen habe ich kapituliert vor einer reicheren
Möglichkeit. Aber ich habe dadurch als Künstler auch gelernt, Dinge aus
der Hand zugeben, die dadurch zu etwas anderem werden können und den
Kontext bereichern. Das ist eine positive Komponente. Als kuratierender
Künstler läuft man Gefahr, nichts mehr aus der Hand zu geben.
Wulffen: Aber der Künstler gibt doch sowieso nach Vollendung des Werkes
seine Arbeit aus der Hand.
Banz: Ja, aber gibt er es dem Publikum oder gibt er es dem Kurator, der
dann noch einmal etwas anderes damit gestaltet? Ich stehe nach wie vor
zu dem, was ich vor acht oder neun Jahren vertreten habe: Jeder im
Kontext der bildenden Kunst ist gleich wichtig, ob er jetzt reflexiv
tätig ist oder produktiv, sofern sein Anliegen dahin geht, den
Erkenntnisprozess zu erweitern, zu bereichern. Ich sehe da überhaupt
keine hierarchischen Unterschiede. Ich habe daher auch keine Probleme
mit Ausstellungen, in denen der Kurator stärker im Zentrum steht als der
Künstler. Er muß einfach dazu stehen können, sich ins Zentrum zu stellen
und ein bestimmtes Anliegen zu haben.
Wulffen: Um nochmal auf die Arbeit für das Gefängnis zurückzukommen. Der
Ausgangspunkt war deine Kenntnis gewisser Figuren, deine
kunsttheoretische Basis, die du durch die Recherche noch erweitert hast.
Banz: Ich versuche meine künstlerische Arbeit in dem Sinne zu
modulieren, daß sie beide Aspekte impliziert: Dass sie unmittelbar
visuell funktioniert, aber auf den zweiten Blick inhaltliche und
emotionale, vertiefte kontextuelle Aspekte in den Vordergrund treten.
Meine Arbeiten basieren immer auf einem Spannungsverhältnis, einem
Paradox: schön - hässlich, lieblich - brutal, angenehm - schal etc., wo
dann effektiv keines tatsächlich zutrifft. Das hat mit Mißverstehen zu
tun.
Ich gebe ein Beispiel: Eine meiner erfolgreichsten Arbeiten war im
Sommer 1998 in der Ausstellung «Freie Sicht aufs Mittelmeer» im
Kunsthaus Zürich zu sehen. Da habe ich fünf große Glasvitrinen, je 3 m
hoch und 1,5 m breit und tief, in den Baselitzsaal stellen lassen. Darin
befanden sich Turngeräte, die an den Glaselementen fixiert waren. Wenn
man eines der Turngeräte benutzt hätte, wäre die ganze Glasvitrine
zusammengekracht. Es entsteht also sofort die Frage, kann ich das Werk
benützen oder muß ich es metaphorisch betrachten. Es hatte gleichzeitig
eine sehr präsente, haptische Ebene durch die Turngeräte und eine sehr
transparente durch das Glas. Zum dominanten und fast gewaltigen
Baselitz-Raum kam also das spielerische Element der Turngeräte und die
Rezeption des Betrachters.
Ein Tag nach der Eröffnung stand in der Zeitung, man könne diese
Turngeräte auf eigene Gefahr benutzen, um einmal im Leben die
umgekehrten Baselitz' richtig herum zu sehen. Man könne sich zum
Beispiel mit dem Kopf nach unten an die Ringe hängen, dann sehe man die
Baselitz-Bilder richtig. Das ist natürlich metaphorisch gesehen eine
Möglichkeit, doch real begibt man sich in Lebensgefahr. Die Leute haben
es in den Medien wiederum so wörtlich genommen, daß die Verantwortlichen
im Kunsthaus in Panik gerieten. Da kamen pro Tag 20 Leute und wollten
sich an diese Ringe oder an das Reck hängen und sich den Baselitz
verkehrt herum anschauen. Das ist das, was mich interessiert, das
potentielle Mißverständnis, das immer da ist, selbst bei den einfachsten
Dingen. Und in Tat und Wahrheit unterliegt ja alles, was man im Museum
tut, dem Gesetz der Versicherung und der Sicherheit, also im Klartext
gesprochen: Selbst wenn sich jemand an die Ringe gehängt hätte - was
auch tatsächlich vorkam - wäre nichts passiert, weil das Objekt aus
Sicherheitsglas bestand, und die Befestigungen der Turngeräte
nachliessen, sobald mehr als 10 Kilo Gewicht daranhängten. Eine
unumgängliche Auflage der Organisatoren im Dienste der Sicherheit.
Wulffen: Das setzt voraus, daß du die Rezeption in deine Arbeit
einbeziehst. Das bedeutet ja, daß die Erfahrung aus deiner kuratorischen
Arbeit in deine künstlerische Arbeit einfließt.
Banz: Da hast du völlig recht. Man kann soweit gehen und sagen, dass ich
im engeren Sinne noch immer kuratorische Arbeiten mache. Meine
fotografische Arbeit zum Beispiel lebt genauso stark vom «zufälligen»
Schnappschuss als auch von der konzentrierten Auswahl der einzelnen
Bilder, die ich nachher treffe. Meine fotografische Arbeit ist in
gewissem Sinnne eine kuratorische oder eine reflektorische, indem ich
mir überlege, wie verdichtet die Fotografie sein muß und was sie
konnotieren können soll, damit sie meinen Qualitätsansprüchen genügt.
Wulffen: Das sind, anders als bei den meisten Fotografen, keine
inhaltlichen Auswahlkriterien. Du wählst die Fotos aus einer anderen
Wahrnehmungsposition aus. Das verändert die Gestalt der Fotografie.
Inwieweit sind formale Kriterien für dich entscheidend?
Banz: Ich bin ja ein ästhetisch funktionierender Mensch. Ich reagiere
intuitiv oder gefühlsmäßig auf bestimmte Farbkonstellationen. Es gibt
auch Sachzwänge. Wenn ich meine Kinder fotografiere, gehe ich von einem
großen Format aus. Das Kind erscheint größer als es tatsächlich ist.
Realitätsverschiebung. Doch jetzt komme ich in einen Sachzwang, denn ich
fotografiere meistens mit einer kleinen Pocketkamera, damit ich schnell
und beweglich agieren und reagieren kann. Da die Auflösung relativ
gering ist, beschränke ich mich auf wenige Dinge, zum Beispiel auf ein
Gesicht, und versuche die ganze Konzenntration und Vieldeutigkeit da
hineinzubekommen. So bestimmt die Ästhetik das Aussehen der Fotos mit.
Wulffen: Ich denke an das Porträt von deinem Kind mit der schwarzen
Zunge. Das ist der Moment, der das Mißverständnis einläutet.
Banz: Ja genau. Dieses Bild ist in diesem Sinne absolut perfekt. Wenn
ich dir jetzt die wirkliche Geschichte dazu erzähle, verstehst du genau,
was ich meine. Also, ich bin mit meinem kleinen Jungen in der Stadt
unterwegs. Bei einem Kiosk will er einen Lakritzestengel, und ich kaufe
ihm den. Er beginnt ihn zu lutschen und plötzlich sagt er: «Papa, schau
mal meine Zunge ist ganz schwarz.» Und ich sage «wow», nehme die Kamera
hervor und mache einen Schnappschuß, während wir über die Flußbrücke
gehen. Und weil es schon ein bißchen am Eindunkeln ist, es ist
Spätherbst, vielleicht abends um halbsechs, verschwindet der Hintergrund
- trotz Blitzlicht - vollkommen. Dadurch hat dieses Bild plötzlich eine
total andere Ausdrucksweise, es erzählt etwas über Traurigkeit und
Melancholie, aber die Realität war das Gegenteil: Er fand es lustig, mir
diese Zunge zu zeigen.
Hier kommt auch ein ganz spezifisch fotografisches Element zum
Vorschein. Die Fotografie ist das abstrakteste Bildmedium, das es gibt,
weil es nichts mit dem Leben zu tun hat, weil es sich nicht in der Zeit
abspielt, weil es nur eine Hundertstel-Sekunde aus dem Leben
herausgreift und kein Davor und kein Danach existiert. Deswegen gibt es
solche Missverstänndnisse, wie beim kleinen Jungen: gut gelaunt, keck,
auf dem Foto aber scheint er gleichsam traurig und melancholisch. Das
ist etwas total Spannendes, das kann man mit Video nicht im gleichen
Masse und das funktioniert auch in der Malerei nicht in dieser Weise.
Wulffen: Genau dieser Differenzmoment ist auch in dem Song «Buenas
tardes amigo» gegeben, der von deinem Sohn gesungen wird.
Banz: Ja, der Gesang ist authentisch. Ich habe ihn für «Nonchalence»,
eine Wander-Ausstellung von Christoph Doswald, so aufgenommen, wie es
Jonathan in dem Moment singen konnte. Er hat sich Mühe gegeben und es
war echt. Dieses ECHT, es ist ein ganz seltsames Wort. Es ist echt, man
empfindet etwas als echt und dann hört man es in einer bestimmten
Konstellation und es klingt vollkommen absurd. Das Kind hat keine Rolle
vorgespielt, es hat einfach gesungen. Wenn ich den Gesang dann aber in
einem Ausstellungsraum, der schwarz ist, und wo das Foto mit der
schwarzen Zunge hängt, höre, dann entrückt die Realität in eine andere,
für viele verwunschene Dimension, die zusätzlich irritiert, wenn wir
aufmerksam auf den Text dieses von Jonathan gesungenen Ween-Songs hören.
Denn dieser erzählt von einem guten Freund, der den Bruder des Sängers
mit drei Schüssen in den Rücken niedergestreckt hat, bis es sich
schliesslich herausstellt, dass nicht er, sondern der Sänger selbst der
Täter war, oder die Person, die der Sänger verkörpert oder das Kind mit
der schwarzen Zunge oder das singende Kind, oder der Zuhörer,
Betrachter ...
Wenn ich meine Kinder, meine Frau, oder kürzlich auch einen Knabenchor
oder ein Straßentheater aufnehme, ist es immer so, wie es ist. Aber in
der Wahl des Ausschnittes, der Länge, der Geschwindgkeit, der
Konzentration oder der Präsentation bekommt es etwas total Absurdes. Das
heißt nicht, daß ich nur solche Arbeiten gemacht habe, es gibt auch
andere interessante, aber diese Art von Arbeit interessiert mich am
meisten. Es ist das Leben als Fiktion und die Fiktion als Leben, die
Bedrohung als Fake und der Fake als Bedrohung. Die Versicherung der
Unsicherheit und gleichzeitig die Verunsicherung der Verunsicherung ...

Originalversion der im Kunstforum International Nr. 145 gekürzt
abgedruckten Fassung.