Marion Strunk
Erinnern/Vergessen
Erinnern beginnt mit Vergessen. Das wissen alle, denn was
geschieht, im einzelnen oder allgemeinen, ist vergänglich,
nicht von Dauer. Aber: Was bleibt?
Nietzsche schrieb: Nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im
Gedächtnis - das ist der Hauptsatz aus der allerältesten
(leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden.
Die alten Griechen schufen sich eine Göttin - Instanz und
aufmerksame Gehilfin - gegen das Vergessen: Mnemosyne. Im
Lexikon der Antike, dem kleinen Pauly, wird sie als schöne
Geliebte des Götterkönigs oder Mutter der neun Musen
beschrieben, mit der besonderen Aufgabe versehen, im Helden-
gedicht die dahingehenden Grössen und deren Taten vor
Vergessenheit zu schützen. Ausserdem war sie zuständig für die
Träume und die Offenbarung. Sie repräsentiert also Bereiche, die
in der Moderne und bis heute das Bewusste und das Unbewusste
genannt werden. Schon immer wird also das bewusste Erinnern mit
dem Unbewussten verknüpft. Das Erinnern - auch als Bewahren
begriffen - wird als etwas Wertvolles angesehen, als unverzichtbar.
Wenn es eine Göttin braucht, um an das Erinnern zu erinnern,
zeigt dies die Kraft des Vergessens. Wenn aber Mnemosyne schweigt,
hat dann nur der Schmerz ihre Fähigkeit?
Es gibt doch auch die schöne, wunderbare Erinnerung, die auch
Ereignis ist. Merkwürdigerweise regt sie weniger zum Nach-Denken
an, was die Erinnerung aber zweifellos will. Das Glück ist
einfach glücklich, im Moment, aber auch sehr flüchtig.
Erinnerung ist Einholung von Vergangenheit. Wiedererkennen. Auch
Wiederholung. Nur kann sie das Erinnerte nicht präsentieren, es
bleibt das Gewesene. Was wieder geholt wird, in welcher Zeit, an
welchem Ort auch immer, es ist nicht dasselbe. Die Erinnerung macht
einen Unterschied im Gegenwärtigen: Erfahrungen können wieder
lebendig werden: Es gibt die Wiederholung der Geschichte; auch
das Geschichtenerzählen mit einem Anfang und einem Ende.
Wiederholung ist aber keine Anhäufung des Immergleichen, ein
allgemeiner Begriff für die ewige Wiederkehr. Wiederholung
thematisiert Differenz.
Zeitlichkeit ist der eigentliche Sinn der Wiederholung. Zeit-
lichkeit als Struktureigenschaft; im Augenblick der Wiederholung
zeigt sich der Unterschied zum Wiederholten; der Wiederholung
wird die Differenz entlockt: die Hervorbringung des Verschiedenen.
Im Handeln - den Unterschied machen - wird die Wiederholung
schöpferisch: Andere Möglichkeiten (als die gewesenen), vieles
wird denkbar, fühlbar, kurz: sinnlich erfahrbar, wird ästhetische
Erkenntnis. Und so ist Erinnerung nicht die blosse Reproduktion
früherer Vorstellungen, sondern der produktive Vorgang einer
Verinnerlichung. Im Innern sitzen die Erinnerungen. Sie können in
der Tiefe eingeschlossen, beschützt, bewahrt bleiben wie eine
Reserve, vergessen, aber dieses Vergessen hat sie nicht zerstört,
sondern schützend umhüllt.
Als eine der bekanntesten Metaphern gilt hierfür die der Schichtung:
Die zeitliche Sukzessivität von Eindrücken
erscheint als sich einander überlagernde Schichten, eine über
der anderen, ohne verlässlichen Ursprung. Ein solcher Ursprung
kann nicht repräsentiert werden, nur supplementiert. Den Supplementen
sind mit den Erinnerungsspuren immer auch Spuren
des Vergessens eingeschrieben, das von Vergangenem lösen, es
aber auch verdrängen kann.
Und so sind Erinnerungen nicht das Wahre, Schöne und unbedingt
Gute, sie werden in der Zeit jeweils eigenartig imaginiert -
eine Konstruktion, die aber in den Momenten der Erinnerung vieles
über das faktische Jetzt zu erzählen vermag.
Erinnerungen holen niemanden und nichts zurück, im Gegenteil:
Die Erinnerung treibt die Zeit weiter, indem sie wiederholt,
geht sie nach vorn. Und Zukunft kommt im Augenblick der Gegenwart,
der das Paradox anhaftet, die Zeit zu konstituieren und gleichzeitig
in ihr unterzugehen. Die Erinnerung führt ins Gegenwärtige, damit
die Zukunft nichts Unbekanntes wird. Die Zeit des Erinnerns
kann als Weg in die erinnerte Zeit beschrieben werden, was aber
seinen Schauplatz im Gegenwärtigen hat, dem Ort der Erinnerung.
Medium der Erinnerung ist das Gedächtnis: Das Vergangene wird
erst im Medium des Gedächtnisses erstellt oder hergestellt.
So bringt das Gedächtnis die Vergangenheit nicht zum Abschluss:
Es hat die besondere Gabe, das Individuum, die einzelnen in diesen
Prozess zu verwickeln und die Zeiten durcheinanderzubringen. Es
hat auch einen scheinbaren Widersacher: das Vergessen. Von Zeit
zu Zeit muss vergessen werden, damit das Gedächtnis arbeiten und
an das Gedachte erinnern kann, um das anscheinend Verlorene wieder
zu holen. Vielleicht für Trauer und Melancholie, vielleicht für
Einsicht und Erkenntnis.
Möglicherweise ist aber das Gedächtnis ein müder Krieger, ein
Kalter Krieger oder ein Lüstling. Manches aber muss erinnert
werden, das zeigen die Zeiten. Besonders jene, die der
Verdrängung Vorschub geben, dieser klugen, schützenden, aber auch
gefährlichen Abwehr, und die Unfähigkeit zu trauern zur Tugend
erheben und Gedächtnis und Erinnerung kollektiv vergessen.
Die Gedächtniskunst, ars memoria, will Erinnerung. Mnemotechnik
wird sie genannt, an die Wächterin Mnemosyne erinnernd, wurde sie
doch im Alten Griechenland ausgebildet. Sie verbindet die Fähigkeit
zur Erinnerung mit der Verortung von Bildern und beruht also
auf den Möglichkeiten des visuellen Gedächtnisses in der
Überzeugung, dass Gedanken oder Erlebnisse gut im Gedächtnis
verhaften, wenn sie mit einer räumlichen Vorstellung assoziiert
werden. Die Bilder-Orte, so hiess es, werden vor dem geistigen
Auge abgeschritten. Oder die Bilder werden in der Inszenierung
zu Orten der Erinnerung. Eine solche Verräumlichung greift auch
die Konzeption von Zeit auf: Die Vergangenheit kann im Bild
Dauer erreichen - und sei es für die Augenblicke einer Aus-
stellung. Für das Gedächtnis steht die Vergangenheit immer
noch bevor, sie kann eben nicht bewältigt werden, aber
artikuliert, vielleicht durchgearbeitet, oder: Die Erinnerung
wird das Thema. Also ist das Gedächtnis selbst unabgeschlossen.
Wie aber Vergangenes im Medium des Gedächtnisses erst wird, ist auch
das Gedächtnis nicht einfach da, es muss hervorgebracht werden.
Die Verräumlichung - der Erinnerung einen Ort geben-, das könnte
ein Bild für das Gedächtnis werden. Die Bilder als Ort des Sichtbaren.
Und mit den Bildern könnte daran erinnert
werden, am Sichtbaren das Unsichtbare nicht zu vergessen.
Dank an: Rainer Warning, Marianne Schuller, Friedrich Nietzsche,
Sören Kierkegaard und Marcel Proust.
veröffentlicht in:
KURSIV: Der wilde Osten, O.é.Kulturzeitschrift, LINZ, 4-2/97