Anti-Copyright in künstlerischen Subkulturen

Florian Cramer

22.9.2000

1  ,,From Lautreamont onwards...``

Abb. 1: Situationistische Internationale, Paris, 1958 (Hamburg, 1976) und VAGUE Nr.18/19, London, o.J.

In einer Geschichte des Copylefts sollte folgendes Zitat nicht fehlen:

,,Alle in Situationistische Internationale veröffentlichten Texte dürfen frei - auch ohne Herkunftsangabe - abgedruckt, übersetzt und bearbeitet werden.``[SI]

Dieses Impressum, das alle formalen Kriterien einer Freien Software-Lizenz gemäß den Debian Free Software Guidelines und gemäß der Open Source Definition erfüllt, formuliert kein neues ,,Open Content``-Copyleft, sondern steht in einer politischen Künstlerzeitschrift von 1958. Fast dreißig Jahre später erscheint das Fanzine VAGUE, das mit Artikeln über die Situationisten, Terrorismus, William S. Burroughs den radical chic der Londoner Gegenkultur der zweiten Hälfte der 1980er Jahre definiert und von Jamie Reed, dem ehemaligen Graphikdesigner der Punkband Sex Pistols gestaltet wird (Abb. 1.1).

Abb. 2: VAGUE Nr.18/19, Impressum

Abb. 3: VAGUE Nr.18/19, Editorial

Das Impressum von VAGUE (Abb. 1.2) verkehrt das offene Copyright der Situationistischen Internationale in die Negation eines Anti-Copyright, das Editorial steht unter der Schlagzeile ,,Plagiarism`` (Abb. 1.3). Es beginnt mit dem Satz:

,,From Lautréamont onwards it has become increasingly difficult to write. Not because people no longer have anything to say, but because Western society has fragmented to such a degree that it is now virtually impossible to write in the manner that has traditionally been considered 'good'.`` ([vag18], S.3)

Und es schließt:

,,In short, plagiarism saves time and effort, improves results and shows considerable iniative on the part of the individual plagiarist``. ([vag18], S.3)

Der Text trägt die Unterschrift des Herausgebers Tom Vague, doch die zitierten Passagen sind selbst wörtlich, aber ohne Kennzeichnung aus einem Manifests übernommen, das kurz zuvor in dem Fanzine SMILE erschienen war.

Abb. 4: SMILE 8, London, ca. 1986

Die Abbildung (Abb. 1.4) zeigt die spätere, achte Ausgabe von SMILE, die im Gegenzug das Titelbild von VAGUE Nr. 18/19 plagiiert. Der Name SMILE travestiert die von der kanadischen Künstlergruppe herausgegebene Zeitschrift FILE, die ursprünglich die Zeitschrift LIFE imitierte. In den frühen 1980er Jahren wurde FILE außerdem von Anna Bananas Mail Art-Zeitschrift VILE parodiert und von Bradley Lastnames Fanzine BILE. SMILE trägt den Untertitel ,,International Magazine of Multiple Origins`` und erschien seit ca. 1983 in mehr als hundert Ausgaben verschiedener Herausgebern, die oft unter den kollektiven Pseudonymen Karen Eliot und Monty Cantsin arbeiteten, in Europa, Amerika und Australien. Eine amerikanische SMILE von 1986 kritisiert das ,,From Lautreámont onwards...``-Manifest, in dem es dessen Worte umdreht: Wer die Weigerung, Rationalität von Irrationalität zu unterscheiden, als Umkehrung der Verhältnisse verkaufe, sei reaktionär. Diese Reaktionäre würden, so wörtlich,

,,[...] strengthen this misconception by attempting to show a historical line running from Lautreamont onwards, and by this linear method avoiding the central paradox of such criticisms.`` ([sm67], o.S.)

1997 erscheint das SMILE-Manifest ,,From Lautréamont onwards`` stilistisch überarbeitet in der Anthologie Mind Invaders unter dem Autorennamen Luther Blissett.1 Luther Blissett wiederum ist, in der Spielart des unsichtbaren Medienphantoms, ein neuer multipler Name der 1990er Jahre. Eine weitere Variante des Manifests erscheint mit der Signatur der amerikanischen Plunderphonic-Band Tape-beatles und lautet:

,,From Stockhausen onwards it has become increasingly difficult to create new music. Not because people no longer have anything to say, but because Western society has fragmented to such a degree that it is now virtually impossible to write in the style of classical, coherent compositions.``2

Der Schlußsatz ,,plagiarism saves time and effort...`` findet sich außerdem in einem mit Luther Blissett gezeichneten Internet-Essay Plagiarism and Why You Should Use It3 sowie auf den Webseiten der phutile international, die ihre Philosophie, ,,Phutilitarianism``, eine ,,open source philosophy`` nennt.4

Allerdings kennzeichnet es Open Source bzw. Freie Software, das sie zumindest den traditionellen Begriff des Plagiats nicht kennt, weil ihr Code frei kopierbar ist. Das Copyleft der GNU General Public License ist kein Anti-Copyright, sondern eine neue Form des Copyrights, das die freie Zirkulation von Code mit Mitteln des Urheberrechts verteidigt. So gibt es in Freier Software durchaus einen Straftatsbestand der illegitimen Appropriation, dann zum Beispiel, wenn freier Code entgegen der Lizenzbestimmung in unfreier Software verwendet wird oder wenn die Herkunft von Code, der in anderen freien Code übernommen wird, nicht kenntlich gemacht wird.

In einem Sonderheft Copy Culture der Kunstzeitschrift New Observations, das 1994 von einschlägig bekannten Anticopyright-Aktivisten herausgegeben wurde, heißt es, ,,Homer was the first Karen Eliot`` [2.1]; Homer sei die erste plagiatorische multiple Identität gewesen. Dies stimmt insofern nicht, als der Begriff des Plagiats und damit auch der Begriff des geistigen Eigentums erst später - gemeinsam mit dem Konzept des Künstlerinidividuums - entsteht. Das Wort ,,Plagiat`` ist erst seit der Frühneuzeit verbürgt. Es geht zurück auf den spätantiken römischen Epigrammatiker Martial, der einen Konkurrenten, welcher Martials Verse kopiert hatte, ,,Plagiarius`` - Kindesräuber - nannte.5

Mühelos lassen sich historische Beispiele von Literatur, Musik und bildender Kunst aufzählen, die ,,plagiatorisch`` genannt werden könnten oder sogar ,,plagiatorische`` Poetiken formulieren: die Romane von Rabelais, Cervantes und Jean Paul zum Beispiel, die Verarbeitung von musikalischen Themen in der Musik des 17. Jahrhunderts, die Werkstattmalerei der Carravagio- und Rubens-Schulen.

Der vorgetäuschten Neuheit des Plagiats entspricht reziprok die simulierte Historizität der Fälschung. Fast alle Religionen und gnostischen Schulen begründen sich auf rückdatierten Pseudoepigraphien und zum Teil über Jahrhunderte hinweg kollektiv verwendete Namen von Propheten und Evangelisten. Mehr noch als Homer sind deshalb Hermes Trismegistus und Christian Rosenkreutz Vorläufer von Karen Eliot und Luther Blissett. Tatäschlich wurden diese Bezüge von Karen Eliot und Luther Blissett selbst hergestellt, in frühen SMILE-Ausgaben6 und in späteren ironischen Versuchen, die situationistische ,,Psychogeographie`` als hermetische Praxis zu lesen.

Trotz zahlloser Praxen und impliziter Poetiken des Plagiats und der Pseudoepigraphie vergangenen Jahrhunderten gibt es eine explizite Poetik des Plagiats erst im späten 19. Jahrhundert. Die Phrase ,,From Lautréamont onwards...`` spielt darauf an. Ein Absatz aus Lautréamonts Poésies wird zur Losung des Anticopyright:

,,Das Plagiat ist notwendig. Es ist im Fortschritt inbegriffen. Es geht dem Satz eines Autors zu Leibe, bedient sich seiner Ausdrücke, streicht eine falsche Idee, ersetzt sie durch die richtige Idee``.[lautr]

Im 20. Jahrhundert erfährt dieses Zitat eine doppelte plagiatorische Appropriation, die zugleich eine Verkettung von Fehllektüren ist. Zuerst eignen sich in den 1950er Jahren die Situationisten Lautréamonts ,,plagiat`` an und nennen es ,,détournement``. Daß Lautréamonts Zitat das Plagiat paradoxal mit dem hegelianischen Fortschrittsgedanken verbindet, kommt der Situationistischen Internationale entgegen, denn einerseits beschreibt sich sich als Avantgarde in einer Zeit, in der die künstlerischen Avantgarden bereits historisch geworden sind, andererseits aber verfolgt sie dennoch die politischen Utopien des Marxismus [deb57]. Gemäß dieser Logik kontaminiert das situationistische ,,détournement`` Lautréamonts Plagiat mit Brechts V-Effekt. Ein früher situationistischer Text würdigt das Theater am Schiffbauerdamm, heute Berliner Ensemble: ,,In den Arbeiterstaaten steht nur das von Brecht in Berlin durchgeführte Experiment den Konstruktionen nahe, auf die es uns heute ankommt`` ([deb57], S.34f).

Fast dreißig Jahre übersetzen die Anticopyright-Subkulturen ,,détournement`` zurück in ,,plagiarism``. Durch die Übertragung ins Englische allerdings ergänzt es die Denotation einer Methode - des Plagiierens - mit der Konnotation eines künstlerischen ,,Ismus``.

2  Plagiarism

Abb. 5: New Observations, Nr. 101, New York 1994, S.28/29

Abb. 6: SMILE, Nr. 11, ,,Plagiarism Special``, Glasgow 1989

Abb. 7: George Maciunas bei der Aufführung von George Brechts Drip Music beim Düsseldorfer Fluxus-Festival, 1963 (aus: [woesb83], S. 22)

2.1  Festivals of Plagiarism

Das ,,Copy Culture``-Heft von New Observations enthält, neben der Homer-These, auch einen Bericht vom Festival of Plagiarism in Glasgow 1989 (Abb. 2.1), dem fünften und letzten einer Reihe von Veranstaltungen, die 1988 in London begonnen und sich in San Francisco, Madison und Braunschweig fortgesetzt hatte. Die Form kleiner selbstorganisierter Festivals war selbst plagiiert von den Apartment-Festivals des Neoismus, einer Subkultur, die mit multiplen Identitäten experimentiert hatte und sich personell zum Teil mit den Plagiatisten überschnitt. Die neoistischen Apartment-Festivals wiederum plagiierten die Fluxus-Festivals der 1960er Jahre. Eine SMILE-Ausgabe, die zum Glasgower Festival erscheint, manifestiert diese Anleihen (Abb. 2.2). Die Schlagzeile ,,Demolish Serious Culture`` plagiiert ein Spruchband des Fluxus-Künstler Henry Flynt, der damit 1964 gegen ein Stockhausen-Konzert im New Yorker Lincoln Center demonstriert. (Tatsächlich enthält das SMILE-Heft ein Interview mit Flynt.) Das Titelfoto plagiiert Drip Music, eine frühe minimalistische Performance des Fluxus-Künstlers George Brecht (Abb. 2.3). Hierzu passend wurden für den sechsten Tag des Glasgower Festivals plagiierte Fluxus-Aktionen angekündigt. Genau diese plagiatorischen Bezugnahmen auf selbst marginale Kunstformen aber erwiesen sich als problematisch für ein Projekt, das mit seiner Plagiats-Rhetorik den etablierten Kunstbetrieb herausfordern und das Verständnis von Kunst hinterfragen wollte.

Abb. 8: New Observations, Nr. 101, S.29 (Ausschnitt)

2.2  Die Medien der Plagiatoren

Die institutionellen und medialen Bedingungen des Plagiatorentums, das auf den Festivals of Plagiarism praktiziert wurde, sind dem Foto auf der rechten Seite des Festival-Berichts in New Observations ablesbar (Abb. 2.4): Der Ort ist eine alternative Galerie, die Maschine im Vordergrund ein Fotokopierer, neben fotokopierten Pamphleten sind eingerahmte Collagen und selbstbedruckte T-Shirts ausgestellt. Nicht zu sehen sind auf diesem Foto sind andere Medien wie VHS-Video und Audiocassetten, die auf dem Festival eingesetzt wurden. Alle Medien und Techniken also sind analog. Interessanterweise werden auch Computer nur zur Produktion analoger Schrift- und Bildträger eingesetzt, zum Beispiel für den Schriftsatz der SMILE-Ausgabe. Die unbegrenzte Kopier- und Plagiierbarkeit von digitaler Information wird von keinem der Beteiligten reflektiert.

Abb. 9: PhotoStatic, Nr. 29 (mit Retrofuturism, Nr.1)

Abb. 10: PhotoStatic, Nr. 34 (mit Retrofuturism, Nr.2)

Durch den Galerieraum und den Einsatz von Medien situiert sich das Festival unzweideutig in der bildenden Kunst. Andererseits aber sind die Medien und technischen Werkzeuge geradezu emblematisch für Subkultur und nichtprofessionellen Kunstbetrieb:

Nicht nur die Festivals of Plagiarism, sondern auch die seminalen Anticopyright-Publikationen aus ihrem Umfeld bedienten sich dieser Ästhetik. Die amerikanische Kleinzeitschrift PhotoStatic/Retrofuturism (Abb. 2.5 und 2.6), wurde zum internationalen Forum der Plagiarism-Kampagne und baute sie zu einem partiell auch theoretisch anspruchsvollen Diskurs aus. Typischerweise lagen die Wurzeln von PhotoStatic ebenfalls in Mail Art und Copy Art. 1988, in seiner neunundzwanzigsten Ausgabe, erhielt es das Supplement Retrofuturism, einer Mini-Zeitschrift in der Zeitschrift, als deren Herausgeber die Plunderphonics-Band Tape-beatles firmierte und der Mutterzeitschrift die Plagiarism-Kampagne injizierte. Zunächst nahm Retrofuturism das untere Viertel aller Heftseiten ein. Später wuchs Retrofuturism über die Hälfte der Seiten hinaus und verschmolz schließlich mit PhotoStatic zu einer Zeitschrift, die neben VAGUE und SMILE maßgeblich zur erneuten Rezeption situationistischer Schriften in künstlerischen Subkulturen beitrug, im Gegensatz zu seinen britischen Pendants aber nicht an einer corporate identity interessiert war, sondern daran, möglichst viele Stimmen der plagiarism-Debatte zu sammeln und wiederzugeben.

Den Herausgebern kam zugute, daß selbstpublizierte Zines im Nordamerika der späten 1980er und frühen 1990er Jahre ein subkulturelles Massenphänomen waren und vor der Popularisierung des Internet eine außerordentlich starke Netzkultur kreierten. Um 1990 rezensierte das Meta-Zine Factsheet Five pro Ausgabe über 1300 Zines.7 Dank dieser Netzkultur konnten SMILE, VAGUE, PhotoStatic/Retrofuturism und die Festivals of Plagiarism ihren Diskurs vor allem in die Mail Art tragen und deren Protagonisten durch Verunsicherung für sich einnehmen. Seit den späten 1960er Jahren beruht die Kommunikation des Mail Art-Netzwerks auf einem humanistischen Ethos, dem zumindest nominellen Glauben an an eine demokratische Kunst, an der jeder als Künstler partizipieren könne. Der amerikanische Anarchist Bob Black wendet dagegen ein, daß die Mail Art sich zum Kunstbetrieb verhalte wie die Paralympics zu den olympischen Spielen. Ihr System sei nicht egalitär, sondern belohne lediglich nach anderen Maßstäben. So beruhe das heimliche Starsystem der Mail Art - wie in Vereinskulturen - nicht auf Qualität, sondern Quantität und Kontinuität von Beiträgen.

Abb. 11: Xexoxial Endarchy, Plagiarized Books, Madison/Wisconsin, ca. 1988

Sichtet man Archive und Anthologien der Mail Art, so stellt man in der Tat fest, daß ihr Gros sich im epigonalen Imitieren von Fluxus und Konzeptkunst erschöpft, diese Epigonalität aber nicht eingesteht und deshalb auch nicht als künstlerische Strategie zu deklarieren weiß. So konnten die Festivals of Plagiarism, SMILE, VAGUE und PhotoStatic/Retrofuturism mit ihren Aufrufen zum Plagiat und zu einem Kunststreik von 1990 bis 199 die Mail Art mit unbequemen Fragen konfrontieren. Umgekehrt galt jedoch auch. Die Plagiats-Kampagnen benötigten eine Ästhetik und waren, da sie den Kunstbetrieb anvisierten, auf künstlerische Mitstreiter angewiesen. Die Mail Art-Künstler standen hierfür bereit, und ihre Ästhetik vereinnahmte die Festivals of Plagiarism. Zwei Druckschriften, die das amerikanische Künstlerduo Xexoxial Endarchy (Liz Was und Miekal And) 1988 für das erste Festival of Plagiarism herstellte, veranschaulichen diese Problematik (Abb. 2.7). Die erste Schrift ist ein falsches Lewis Carroll-Buch, die zweite ein gefälschter Maya-Codex als vorgeblich ältestes Manifest künstlerischen Plagiatorentums. Bereits die fotokopierten Einbänden lassen keinen Zweifel, daß es sich hier nicht um ambitionierte Fälschungen, sondern typische, unschwer identifizierbare Mail Art handelt, obwohl selbst mit den beschränkten technischen Mitteln der Xerographie der Eindruck einer Raubkopie eines verschollenen oder unter Verschluß gehaltenen Manuskripts leicht herzustellen gewesen wäre.

Abb. 12: The Plagiarist Codex

Abb. 13: Lewis Carroll, Innuendo

Ein Blick in den vermeintlichen Maya-Codex (Abb. 2.8) räumt letzte Zweifel an der Fabriziertheit des Dokuments, so denn es sie noch gab, endgültig aus. Text und Typographie geben sich auch in der Carroll-Pseudoepigraphie (Abb. 2.9) nicht einmal den Anschein einer Simulation.

Die bündigste Kritik dieser Ästhetik wurde 1989 und 1993 in zwei anonymen Pamphleten aus Baltimore formuliert. Auf dem Flugblatt History Begins Where Life Ends heißt es:

Es ist unerheblich, daß die Festivals of Plagiarism in erster Linie Kunstausstellungen für Collagen, Copy Art, Malerei und ähnliche banale Bildformen waren. Es auch unerheblich, daß 'Festivals of Recycling' der treffendere Titel gewesen wäre. Ins Gewicht fällt, daß, indem das (oft sogar unkritische) Wiederverwenden und Modifizieren von vorgefundenem Material 'Plagiieren' genannt wurde, sich Leute mit gewöhnlichen Kunsthochschul-Arbeiten einen radikalen Anstrich geben konnten. Hätten man diese Wiederverwendung von Material einfach 'Recycling' genannt, dann hätten die Festivals eher wie Produkte alter Hippie-Sozialdemokraten ausgesehen und sich nicht halb so gut verkauft.``8

Seite aus: SMILE Individually Collectively Realized and Abandoned, Baltimore, o.J., o.P.

Das zweite Pamphlet erscheint in einer SMILE-Ausgabe, die das Titelfoto der Glasgower SMILE parodiert und dieses Plagiat des Plagiats wiederum dem Original von George Brecht zuschreibt (Abb. 2.2). Aus der Sicht eines Teilnehmers wird das erste Londoner Festival of Plagiarism kritisiert:

,,Eine ostinaten Kritik von 'geistigem Eigentum' und 'Originalität' wurde von Gruppen-Events flankiert, deren Teilnehmer mit dieser Polemik zumeist nicht explizit einverstanden waren. Viele wollten einfach ihre 'Ästhetik' und vage politischen Kunstwerke ausstellen und nahmen das Festival als passende Gelegenheit dafür wahr. Dabei warf das Konzept allgemeinere Machtfragen auch auf der organisatorischen Ebene des Festivals auf. Sehr offensichtlich hatten 'Aktivisten' Sprachregelungen vorgegeben und damit die Veranstaltungen und den Diskurs programmatisch vorbelastet. Zugleich gab es erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber, was eigentlich das Konzept sei.``9

Die Kritik mündet in einem Aufruf zu einem Festival of Censorship: Eine Freiheit des Plagiierens gäbe es nur dann, wenn auch die Monopole auf Zensur abgeschafft seien. Zensieren sei zudem populistischer als Plagiieren, weil die Zensur im Gegensatz zum Plagiat keine Kenntnis guter Quellen voraussetze. Tatsächlich ist die Dualität von Plagiat und Zensur nicht nur zeichentheoretisch begründbar: Jede plagiatorische Selektion und Verdoppelung eines Zeichens impliziert nolens volens eine Entscheidung gegen ein anderes Zeichen. Auch Lautréamonts Plagiat, das eine ,,falsche Idee`` streicht und ,,durch die richtige Idee`` ersetzt, verbindet plagiatorische Verdoppelung mit zensorischer Korrektur.

3  Kritik des Plagiarism

Da die Anticopyright-Kampagnen und der Festivals of Plagiarism blieb in den Kunstbetrieb intervenieren wollten und doch nur in subkulturellen Ghettos gefangen blieben, brach ihr Konzept im selbstverkündeten Kunststreik zusammen. Um zu provozieren, hätte ein radikaler Plagiatismus nicht seine eigene Ghetto-Ästhetik, sondern etablierte Galeriekunst plagiieren müssen einschließlich der sozialen Inszenierungen des Kunstbetriebs. Dies scheiterte schon daran, daß die Beteiligten die Codes des kommerziellen Kunstbetriebs weder beherrschten, noch sich überhaupt aneignen wollten. Auch anderenfalls wären bestenfalls Plagiate von Plagiaten produziert worden, denn Plagiate moderner Kunst wurden in den frühen 1980er Jahren schon von amerikanischen appropriation artists wie Sherry Levine und Richard Prince hergestellt. Der Erfolg der appropriation art demonstriert, daß Plagiate nur im selben Diskurs, auf Augenhöhe mit den plagiierten Objekten funktionieren. Eine plagiierte Warhol-Brillo Box ist kein Plagiat mehr, wenn sie in einem Keller oder in einem Supermarkt steht. Schon durch ihre Orte waren die Festivals of Plagiarism in ihrem Anspruch gescheitert und erzielten nicht mehr als die Selbstvergewisserung ihres Milieus. Und schließlich fehlte ihnen die Souveränität, sich dieses Scheitern einzugestehen. Stattdessen wurden, zum Beispiel auf der Einladung zum Glasgower Festival of Plagiarism Scheinargumente - dazu noch schlechte vitalistische Scheinargumente - gegen postmoderne Kunst angeführt:

,,[...] the 'appropriations' of postmodern ideologists are individualistic and alienated. Plagiarism is for life, post-modernism is fixated on death.``

Selbst als konzeptuelle Kunst hat der Plagiarism-Diskurs Schwächen, weil sein theoretischer Horizont auf die klassischen Avantgarden und die Situationistische Internationale begrenzt blieb. Radikalere Konzepte der Appropriation von Zeichen formulieren zum Beispiel die frühen Erzählungen von Jorge Luis Borges und Julia Kristevas 1967 publizierte Intertextualitäts-Theorie. Die französische Oulipo-Gruppe um Raymond Queneau und Georges Perec nannte ihre ästhetischen Vorläufer ,,antizipatorische Plagiatoren``, und der amerikanische Schriftsteller Raymond Federman entwarf eine selbstreflexive ,,Surfiction`` mit einer Poetik des ,,playgiarism`` (mit ,,y``), ohne daß die Plagiatoren-Subkulturen davon Notiz genommen hätten.

3.1  Plunderphonics

Copyright Violation Squad, CVS Bulletin, Iowa City, 1992

Jon Oswald, Plunderphonics, ca. 1989

Blieben die Festivals of Plagiarism ohne nennenswerte Nachwirkung über den Kreis ihrer Teilnehmer hinaus, so erweisen sich heute die Plunderphonics als erfolgreichstes Projekt der plagiatorischen Subkulturen. Der Begriff wurde zuerst von dem kanadischen Komponisten Jon Oswald geprägt und von den Tape-beatles zu einem Markennamen gemacht. 1992 publizieren die Tape-beatles das Copyright Violation Squad Bulletin (Abb. 3.1), einen Ableger von Retrofuturism, der im Zuge der Gerichtsverfahren gegen Negativeland und Oswald den ,,Plunderphonics`` ein Manifest und eine corporate identity gibt.

Die Kritik der Festivals of Plagiarism und ihrer Ästhetik trifft allerdings auch die Plunderphonics, deren Klangprodukte im strengen Sinne keine Plagiate sind - also nicht z.B. einen Madonna-Song unter eigenem Namen verbreiten -, sondern popkulturelles Audio-Recycling. Musikalische Vorläufer sind Bernd Alois Zimmermanns Montage-Opern und, bereits 1942, John Cages Stück Credo in Us für drei Percussionisten und einen vierten Musiker an einem Radio oder einem Plattenspieler, der dazu angewiesen wird, ,,some classic`` zu spielen, Beethoven, Dvorak, Sibelius oder, so die Ironie, Schostakowitsch. Einen Ruf als ,,Sonic Outlaws`` machten sich Negativeland und Oswald vor allem deshalb, weil ihre Plattencover den Schriftzug der Band U2 und eine Montage von Michael Jacksons Kopf auf einen nackten Frauenkörper zeigten (Abb. 3.1) und dadurch die Anwälte der Musikindustrie auf den Plan riefen. Dadurch gelangen den Plunderphonics zumindest Provokationen, die die Festivals of Plagiarism im Kunstbetrieb nicht zu erzielen vermochten.

3.2  Noch auszuführen: Anticopyright-Subkulturen, Netzkunst und Freie Software

Abbildungen

    1.1  Situationistische Internationale, Paris, 1958 (Hamburg, 1976) und VAGUE Nr.18/19, London, o.J.
    1.2  VAGUE Nr.18/19, Impressum
    1.3  VAGUE Nr.18/19, Editorial
    1.4  SMILE 8, London, ca. 1986
    2.1  New Observations, Nr. 101, New York 1994, S.28/29
    2.2  SMILE, Nr. 11, ,,Plagiarism Special``, Glasgow 1989
    2.3  George Maciunas bei der Aufführung von George Brechts Drip Music beim Düsseldorfer Fluxus-Festival, 1963 (aus: [woesb83], S. 22)
    2.4  New Observations, Nr. 101, S.29 (Ausschnitt)
    2.5  PhotoStatic, Nr. 29 (mit Retrofuturism, Nr.1)
    2.6  PhotoStatic, Nr. 34 (mit Retrofuturism, Nr.2)
    2.7  Xexoxial Endarchy, Plagiarized Books, Madison/Wisconsin, ca. 1988
    2.8  The Plagiarist Codex
    2.9  Lewis Carroll, Innuendo

Bibliographie

[SI]
Situationistische Internationale, übers. von Pierre Gallissaires und Hannah Mittelstädt, Hamburg: MAD Verlag, 1976, Bd.1 (Nr./1958)
[deb57]
Guy Debord, Rapport zur Konstruktion von Situationen, Hamburg: Nautius, 1980 (Paris 1957)
[lautr]
Lautréamont, Poésies, in: ders., Gesamtwerk, übers. von Ré Soupault, Reinbek: Rowohlt, S.282
[urb91]
Klaus Urbons, Copy Art, Köln: DuMont, 1991
[vag18]
Vague #18/19, London 1985, S.3
[sm67]
SMILE 6/7, Baltimore 1986
[woesb83]
1962 WiesbadenFluxus 1982, hrsg. v. René Block, Berlin 1983
[obs101]
New Observations, Nr.101, New York, Mai/Juni 1994, S.25
[mi97]
Mind Invaders, London: Serpent's Tail, 1997

Fußnoten:

1,,From Lautreamont onwards it has become increasingly difficult to write, not because we lack ideas and experiences to articulate - but due to Western society becoming so fragmented that it is no longer possible to piece together what was traditionally considered `good' prose.``, [mi97], S.133

2http://www.hyperreal.org/intersection/zines/est/articles/plagiari.html

3http://www.vanguardonline.f9.co.uk/00505.htm

4http://www.phutyleinternational.com/acright/acright.htm

5Martial I,52

6SMILE 23, Doncaster 1986: ,,The concept of plagiarism, after all, is implicit in the concept of writing, and Thoth must therefore be regarded as the god of plagiarism, Lord of the plagiaristic process. It is for this reason that all future SMILE editions should be consecrated to his name.``

In derselben Ausgabe heißt es: ,,The Neoists first made themselves known to the world in the early 1970s when a document was circulated throughout the United States. This manuscript, known as the Fama, declared to the world the existence of an international brotherhood known as the Neoist Conspiracy, whose purpose was to bring about a new age of enlightenment. [...] Later in the 1970s a second Neoist document appeared in the States and was widely circulated throughout Canada and Europe. Once again the anonymous authors urged the same response. The third and final document in this inital series was published in Quebec in 1980. It was known as The Chemical Wedding of Monty Cantsin``, und in einem anderen Text derselben Ausgabe: ,,

7Der Begriff des e-zines stammt aus dieser Periode.

8,,No matter that the Festivals of Plagiarism were mainly art shows for collages & copy art & paintings & other such banal pictorial forms. No matter that Festivals of Recycling might have been more accurate descriptions. The important thing is that by virtue of calling the act of reusing & changing previously existing material (not even always with the intention of critiqueing said material) 'Plagiarism', the appearance of being 'radical' could be given to people whose work was otherwise straight out of art school teachings. If the process of reusing had been called something so uncontroversial as 'recycling' the festivals would have seemed more like the product of 'outmoded hippie liberals' & wouldn't have sold nearly as well.``

9Proletarian Posturing and the Strike that Never Ends, in: SMILE (o.N.), ,,A repetitive critique of ' 'ownership' and 'originality' in culture was juxtaposed with collective events, in which a majority of participants did not explicitly agree with the polemics. Many of the participants simply wanted to have their 'aesthetic' and vaguely political artwork exposed, and found the festival a receptive vehicle for doing so. Throughout much of these ideas loomed 'abstract' questions of power, even at the level of event organization. In a very obvious way, 'activists' were structuring events and language to give weight to a programmatic agenda of ideas. At the same time, there was considerable dissent as to what those ideas consisted of.``