Christoph Doswald

L'atlas sentimental   Carsten & Olaf Nicolai


"Überblick der Natur im grossen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht [] dem fühlenden Menschen gewährt: sind die Zwecke, nach denen ich strebe." Alexander von Humboldt, der Verfasser dieser Zeilen, war ein Universalforscher, der sowohl naturwissenschaftlichen wie kulturellen Phänomenen gleichermassen sein beobachtendes Auge schenkte und sich auch der schwärmenden, emotionellen Wahrnehmung nicht verschloss. Er unternahm eine fünfjährige Expediton nach Südamerika, bereiste das asiatische Russland, beobachtete als Erster die zum Aequator hin abnehmende magnetische Kraft, sammelte und bestimmte unzählige Pflanzen und fasste seine Erfahrungen in der fundamentalen Abhandlung "Kosmos. Entwurf einer phys. Weltbeschreibung" zusammen. Obwohl der eingangs zitierte Humboldtsche Ansatz bereits 1807 niedergeschrieben wurde, hat er in Bezug auf Kosmologien, auf eine ganzheitliche Erfassung der Welt kaum etwas von seiner Aktualität eingebüsst. Im Gegenteil: Im Zeitalter der Wissenspartikularisierung, der Atomisierung und Ausfransung von empirischen Gewissheiten scheint gerade erst diese Optik, die emphatische Annäherung, das romantisierende Erleben und subjektive Überhöhen vor objektive Sachverhalte stellt, eine universalistische Weltsicht möglich zu machen.

Olaf und Carsten Nicolai, zwei Künstler, die auch Brüder sind, haben sich im Rahmen eines gemeinsamen Projektes gewissermassen dieser Methode bedient. "Die Neuaufteilung der Welt", so der Titel des Werkes, entstand 1994. Es besteht aus einem grossformatigen Gemälde, vier Aquarellen, zehn Symbolen und rund einem Dutzend Flaggen ­ gewissermassen eine Konstellation aus Spielfeld und Spielkarten wie sie Gesellschaftsspiele à la "Monopoly" oder "Strategie" aufweisen. Das Gemälde ist keine Malerei im eigentlichen Sinne, sondern eine zeichnerische Collage, montiert aus Papierfragmenten, die auf die Leinwand geklebt wurden. Der Bildgegenstand ­ eine in spröden Farben und Bleistift gehaltene Weltkarte - verbindet Figuration und Abstraktion, empirisches Wissen mit subjektiver Erfahrung. Ortsbezeichnungen fehlen vollkommen, die Himmelsrichtungen finden sich beliebig in die Leinwandecken gedrängt, statt den Längs- und Breitengraden fungieren die Waagrechten und Senkrechten der aufgeklebten Zeichnungsblätter als Rasterung.

Als Landkarte im herkömmlichen Sinn, ist diese Nicolaische Projektion der Welt ­ trotz der ungefähren, der Erinnerung entspringenden Beibehaltung der Kontinent-Umrisse, dem zeichnerischen Andeuten von Flussläufen, die allesamt ins Meer münden und der herkömmlichen Unterscheidung zwischen Land und Wasser - im Grunde genommen unbrauchbar. Man könnte das Gebilde vielmehr als einen "atlas sentimental" bezeichnen, als ein weltgeographisches Tagebuch. Hier und dort finden sich nämlich Spuren, die auf einen Gebrauch der Karte verweisen. In der Gegend vom Kap der guten Hoffnung beispielsweise ist mit Bleistift ein Datum eingetragen - "4.11.94", das eine auf der Höhe von Namibia eine sieben Tage später datierte Entsprechung findet. Fragt man nach, so stellt sich heraus, dass Carsten Nicolai in diesem Zeitraum Südafrika bereist hat, dass ihm der Atlas sozusagen als Mittel zur Vergegenwärtigung der eigenen Geschichte dient. New York, Tokio, Westafrika, der Maghreb, Grossbritannien, Kolumbien, Mexiko und Acapulco wären als weitere Destinationen zu nennen - da die Weltkarte jedoch nicht exakten kartographischen Vorgaben folgt, lässt sich nie wirklich mit Bestimmtheit eruieren, wohin es die reisenden Künstler verschlagen hat. Die Informationen der Reisekarte bleiben diffus, verdeutlichen mehr die Richtung denn das Ziel.

Das Ende der achtzgier Jahre vielzitierte Konzept des Nomadismus, der globalen Kommunikationsvernetzung wird gerne als aktueller Hintergrund für die von Olaf und Carsten Nicolai vorgelegte "Neuaufteilung der Welt" genannt. Nur: dieser Kontext von Markt und Mentalität gilt nicht nur für die beiden Künstler, sondern muss als grundsätzliche Lebens- und Produktionsbedingung des Kunstbetriebs betrachtet werden. Die Nicolaische Auseinandersetzung mit dem Thema offenbart, weit über den Nomadismus hinausgehend, eine fundamentalere und zugleich biographische Lesart. Man könnte die "Neuaufteilung der Welt" beispielsweise als Selbsterfahrungs- und Selbstbehauptungsprozess betrachten, einen Vergleich von innerer und äusserer Peripherie. Dies aus biographischen Gründen: Olaf und Carsten Nicolai stammen aus der ehemaligen DDR, einem bis 1989 geographisch wie ideologisch relativ geschlossenen Kosmos. Stellvertretend für eine ganze Generation würde ihr Projekt den Versuch unternehmen, die Erfahrung einer gänzlich neuen Weltsicht zu visualisieren.

Doch auch dieses Interpretationsmuster greift zu kurz. Denn die künstlerische Erfahrung zeigt sich resistent gegenüber einer positivistischen Intersubjektivität, verweigert sich der Vereinnahmung durch neue wie alte Paradigmen. "Die Neuaufteilung der Welt", darauf verweist schon der Titel, foutiert sich um bestehende Grenzen, Nationalismen und den damit verbundenen Repräsentationskanon von Zeichen, Symbolen und Definitionen. Das Projekt unternimmt den Versuch, der kollektiven eine genuin persönliche Wahrnehmung entgegenzusetzen, die Welt mit eigenen Augen zu entdecken und zu beschreiben. Der Nicolaische Kosmos wird mit Symbolen und Begriffen besetzt, denen, zumindest aus der Optik unseres Sprachverständnisses, eine zutiefst kryptische Bedeutung innewohnt: Die Begriffe "DOAB" und "KACHOLL" tauchen beispielsweise in der Nähe des indischen Subkontinents auf. Während DOAB im Persischen Zweiwasser bedeutet und die Gegend zwischen den Flüssen Dschamna und Ganges benennt, verschliesst sich dem Betrachter die Verbindung zwischen Kacholl (slawisch "Zopf", gleichzeitig aber auch Spitzname für die Morlaken in Dalmatien und die Kleinrussen) und dem geographischen Ort. Insgesamt 24 dieser Sprachzeichen sind der Weltkarte beigeben - meist wie der Begriff "ZINZAREN" (eine phonetische Ableitung vom lateinischen Wort quinque), der unterhalb Australiens auftaucht, dem fünften Kontinent, als pure Assoziation oder gezielt verrätseltes Lautmalen. Diese willkürliche Setzung von Symbolen und Zeichen knüpft an bekannte kolonialistische Inbesitznahme-Muster an, erinnert aber auch an das urmenschliche Bedürfnis, den Dingen einen Namen zu geben. Während jedoch die wissenschaftlichen und politischen Benennungsstragien auf Analogien, Ableitungen, Missverständnissen und dem Personenkult beruhen - der Seefahrer Amerigo Vespucci nannte beispielsweise einen südamerikanischen Landstrich Venezuela (Klein Venedig), weil dort die Häuser genauso wie in der italienischen Lagunenstadt auf Stelzen gebaut waren; später wurde nach ihm der ganze Kontinent mit Amerika bezeichnet - unterliegt die Nicolaische Definitionspraxis assoziativen und spielerischen Vorstellungen, welche die herkömmliche Anwendung, auch wenn sich die Künstler ihr nicht gänzlich entziehen können, mit Skepsis betrachtet, gezielt unterwandert und ironisiert, indem sie die Vorstellung von "unserer Welt" wirklich beim Wort nimmt.

Ähnlich verhält es sich mit den sogenannten "Zeichen", mit Tusche verfertigte Embleme, deren Herkunft und Sinn einer individuellen, an Archaisches anklingenden Mythologie entspringt, den Wappenkanon der Heraldik ad absurdum führt: Mal findet sich ein Stern von einem Dreieck eingekreist, mal steht ein holzschnittartiges Messer auf blutrotem Grund, mal schwebt eine menschliche Figur auf einer Kugel im Raum. Die Bedeutung dieser Symbole bleibt dem Betrachter verschlossen, er kann sie, obwohl die Vorschläge der Künstler an scheinbar Bekanntes anknüpfen, mit herkömmlichen Rezeptionsmitteln nicht entschlüsseln. Der Betrachter wird zur Recherche angehalten, einer Recherche, die zwar zur Entschlüsselung der Worte führt, letztlich aber Erkenntnis ohne Verstehen generiert.

Das enigmatische Nicolaische Weltbild nachvollziehen kann möglicherweise nur jener Betrachter, der sich die vierteilige Aquarellserie "Interieur (Vom Vermessen)" zu Herzen nimmt. Die mit lasierender Farbe und Tuschkonturen gemalten, emblemhaften Blätter enthalten sozusagen eine Handlungsanweisung für die Wahrnehmung der Welt: "Beobachtung" zeigt einen Menschen, dessen Sehstrahl eine Kugel erfasst. Daraus leitet sich das von der Reflexion generierte "Modell", ein drehbarer Globus. Das "Konstrukt" schliesslich reduziert die modellhafte Analyse zur abstrakten Essenz, zur reinen Struktur, die wiederum als "Domino"-Spielstein in ein grösseres Ganzes eingebunden wird. Die visuellen Anweisungen folgen dem Paradigma der aufklärerischen Logik - aus dem Einen folgert das Andere, aus dem Konkreten das Abstrakte. Das Spiel der Wahrnehmung, so könnte man im Kurzschluss zwischen dem ersten und letzten Bild deduzieren, besitzt seine Regeln. Doch die, und das bedeutet die "Neuaufteilung der Welt", könnte jeder für sich selber neu definieren. Dies praktizieren die Nicolais allerdings nicht in utopistischer Manier, sondern immer im Rahmen bestehender Sprach- und Zeichenkategorien. "Interieur", wie die Zeichnungen betiltet sind, offenbart sich in diesem Zusammenhang als eine Referenz an eine alltägliche Gegebenheit, als Verweis auf die Wohnungseinrichtung. "Die Neuaufteilung der Welt" ist in insofern als Möglichkeit zu lesen, die Einrichtungsvokabeln, die bestehenden Möbel bei Bedarf neu zu plazieren. Gerade jetzt, wo die Auslotung der Materie gleichsam abstrakte Formen angenommen hat, wo lange Zeit verfestige, ideologische Weltbilder stürzen, wo sich vollkommen neue, virtuelle Räume auftun, kommt dieser subjektivistischen Vermessung der Welt, dieser persönlich gefärbten empirischen Beschreibung mit ironischen Untertönen eine existentielle Eminenz zu. Es geht vornehmlich darum, und dazu fordert "Die Neuerfindung der Welt" mit Nachdruck auf, die Welt anders zu denken. Mag sein, dass dieses Ansinnen jenem von Humboldtschen Forschergeist entspringt, dem "Wunsch, gleichzeitig die Phantasie zu beschäftigen und durch Vermehrung des Wissens das Leben mit Ideen zu bereichern."

Erstveröffentlicht in: Ausstellungskatalog
Kunstverein Bozen / Kunsthaus Bregenz 97/98