Samuel Herzog

Revolution durch Dekoration

Daniel Buren im Pariser Centre Pompidou (2002)

In früheren Jahrhunderten wandte man sich mit gerümpfter Nase von Kunstwerken ab, weil sie unschön waren, schlecht gemalt, die falschen Geschichten erzählten oder auf andere Weise an den Regeln bürgerlicher Kennerschaft vorbeizielten. Unter dem Druck einer Kunst, die immer hässlicher zu werden drohte, wurden die Regeln des guten Geschmacks im 20. Jahrhundert immer seltener an formalen Kriterien festgemacht - nun waren es zunehmend die sichtbaren oder auch nur erahnbaren Inhalte, an denen die Qualität eines Werks gemessen wurde: Nichts war der Moderne verdächtiger als ein Werk, das blosses Ornament schien. Kein Urteil über ein Kunstwerk war vernichtender als die Feststellung: Das ist ja nicht mehr als Dekoration.

Bild und Tapete

Die Kunst hatte eben mehr zu sein als das. Und also sah das 20. Jahrhundert eine ganze Population von Kuratoren und Theoretikern heranwachsen, die vor allem mittels Texten und sogenannter Diskurse, wie gewisse Normen heute geheissen werden, unablässig bewiesen, dass die Kunst eben immer mehr ist als Dekoration. All dies konnte indes nicht verhindern, dass vor allem Bilder immer wieder von ihrem Schicksal eingeholt wurden: Sie landeten auf irgendwelchen Wänden, vielleicht gar in privaten Räumen und wurden dort zu Dekoration.
Hat ein Bild erst einmal den Status einer Tapete angenommen, dann ist die Kunst damit am Ende. Nicht so für Daniel Buren (geb. 1938), denn die Arbeit dieses seit mehr als vierzig Jahren überaus kunstmunteren Franzosen beginnt genau an diesem Punkt: Sie ist zunächst nicht mehr als Dekoration. Angefangen hat das im November 1965 mit Streifen von 8,7 cm Breite, die in unterschiedlichen Farben, mal vertikal und mal horizontal auf die verschiedensten Bildträger gesetzt wurden. Bald folgten auch Tapeten mit derselben Musterung, was es dem Künstler gestattete, ganze Museen mit seinem «Markenzeichen» zu füllen.
Was bis heute aus der Arbeit dieses «poseur de papier peint parisien», wie Donald Judd einst spottete, geworden ist, zeigt derzeit eine Ausstellung im Pariser Centre Pompidou. Hier hat Buren die oberste Galerie des Hauses in eine begehbare Installation verwandelt, die einen wahrhaft seltsamen Titel trägt: «Le Musée qui n'existait pas». Ziel des Unterfangens ist es, nach den Worten des Künstlers, das Centre Pompidou in jenen Zustand von vor 25 Jahren zurückzuversetzen, als es noch nicht «erfunden» war.
Das ist schwer zu verstehen. Wer indes die von Buren geschaffenen Räume betritt, der muss sich zumindest eingestehen, dass es da nichts zu sehen gibt, was als inhaltliches Angebot von Seiten des Künstlers interpretiert werden könnte. Da gibt es allerlei Strukturen, die Hütten oder Kojen im Raum schaffen, Projektionen farbiger Muster, Ausblicke durch verschieden strukturierte Gläser, Spiegel und dazwischen immer wieder völlig leere Räume. Alles ist nach Art eines dreidimensionalen Schachbrettmusters organisiert - was denn vielleicht auch auf eine Spur führt. Da wir hier offensichtlich von der Kunst keine Inhalte geboten bekommen, wechseln wir die Sache, bei der wir sind: Vielleicht beobachten wir die anderen Besucher, die sich da wie Figuren über das Schachbrett bewegen, machen Königin, Springer und Bauern aus. Vielleicht denken wir auch über die Institution nach, in der wir uns befinden, über unsere Erwartungen an das Gebotene. Vielleicht nehmen wir die Architektur anders wahr, die da von der Dekoration moduliert wird . . . Eigentlich ist es uns völlig freigestellt, was wir hier wie denken und erleben wollen.

Seh-Werkzeug

Auf der theoretischen Ebene lässt sich das dann zum Beispiel so fassen: Für Buren ist das Kunstwerk nicht ein Ding, das es zu sehen gibt, sondern eine Sache, die das Sehen erst erlaubt, ein «outil visuel». Oder aber man geht einen Schritt weiter und lässt sich zu folgendem Schluss verführen: Da die Kunst von Buren von sich aus nichts sagt, verweist sie auf alles, was sie umgibt - den Raum, das Museum, die ästhetischen, sozialen, institutionellen und politischen Rahmenbedingungen von zeitgenössischer Kunst überhaupt. Genau an diesem Punkt nun können wir endlich aufatmen: Denn indem Buren mit seiner Kunst auf diese Bedingungen verweist, hinterfragt er sie natürlich auch. Und damit haben wir ihn nun doch noch gefunden: den kritischen Inhalt.


erschienen in Neue Zürcher Zeitung, Feuilleton, 26. August 2002 Nr. 196 25