Samuel Herzog

Stranger than Paradise

Zum 100. Todestag von Paul Gauguin (2003)

Am 8. Mai 1903 liess Paul Gauguin, der seit wenigen Monaten auf der Insel Hiva Oa in seinem vom katholischen Bischof erheuchelten «Haus der Freude» lebte, nach dem protestantischen Pfarrer Paul-Louis Vernier rufen. Als Vernier das Haus betrat, war der Maler bereits tot - vermutlich von einer Überdosis Morphium dahingerafft. In den Wochen vor seinem Tod hatte Gauguin einen Text mit dem Titel «Avant et Après» niedergeschrieben - weniger eine abgeklärte Rückschau auf sein kontrastreiches Leben denn eine Rechtfertigung der Widersprüche vor sich selbst. «Ich war manchmal gut und beglückwünsche mich deshalb nicht. Ich war oft böse und bereue es nicht», heisst es da zum Beispiel - und weiter oben: «C'est si peu de chose la vie d'un homme et il y a cependant le temps de faire de grandes choses, morceaux de l'oeuvre commune.»
Wie Gauguin seinen Beitrag zum «gemeinsamen Werk» geleistet hat, werden in diesem Jahr diverse Ausstellungen illustrieren. Nur gerade fünf Jahre nach den Feierlichkeiten zu seinem 150. Geburtstag kommt der Maler damit schon wieder zu Ehren. Die wohl wichtigste Ausstellung zum 100. Todestag des Künstlers wird allerdings erst Anfang Oktober im Pariser Grand Palais eröffnet: Im Mittelpunkt von «Gauguin-Tahiti» steht das monumentale Werk «D'où venons nous? Que sommes nous? Où allons-nous?», das Gauguin 1897 malte und das als sein künstlerisches Vermächtnis gilt. Das Werk gehört dem Bostoner Museum of Fine Arts und wird erstmals seit 1949 wieder in Europa zu sehen sein. Weitere Feierlichkeiten sind in Quimper und Pont-Aven sowie auf Tahiti geplant.
Schon jetzt beschäftigt sich eine Ausstellung im Pariser Musée du Luxembourg mit den Anfängen des Malers in Pont-Aven. In den 1880er Jahren gab der Hobbymaler Paul Gauguin seine Bankkarriere auf, liess sich von Pissarro in die Feinheiten des Handwerks einweihen und zog schliesslich 1886 ein erstes Mal nach Pont-Aven. Dass sich in diesem kleinen Bretonendorf auch mit wenig Geld gut leben liess, hatten vor Gauguin auch schon eine Reihe pinseltüchtiger Amerikaner und Engländer herausgefunden. Deren Bilder werden nun zusammen mit einigen Werken von Gauguin und Mitstreitern wie Emile Bernard oder Paul Sérusier im Musée du Luxembourg gezeigt. Die Ausstellung ist so klaustrophobisch eng geraten, dass sich ein Schnupfen hier wohl so schnell verbreitet wie damals Gauguins moderne Idee, nicht das zu malen, was man sehe, sondern das, was man spüre. «Malen Sie nicht zu sehr nach der Natur», schrieb Gauguin 1888 an seinen Freund und Mäzen Emile Schuffenecker: «L'art est une abstraction, tirez-la de la nature en rêvant devant et pensez plus à la création qui en résultera.»
Die Qualität der Exponate im Musée du Luxembourg ist recht unterschiedlich. Es gelingt der Schau jedoch, deutlich zu machen, wie Gauguin schon damals alle möglichen und vor allem auch modischen Stilelemente benutzte, um seinen Bildern eine fremde, ein wenig exotische und dabei gleichzeitig mysteriöse Tiefe zu geben - von japanisierenden Elementen bis zu antiken oder ägyptisierenden Motiven.
Die «unberührte» Bretagne wird in der Ausstellung aber auch als ein idealer Ort dargestellt, eine Kunst zu entwickeln, deren emotionales Potenzial wie die Versprechungen einer Religion über die ersten Kränkungen der früh industrialisierten Welt hinwegzutrösten vermag. Das nächste, vermeintlich unberührte Paradies suchte Gauguin dann 1891 in der Südsee. Auch da war er nicht ganz so sehr Pionier, wie das aus heutiger Sicht scheinen mag - lag halb Frankreich doch spätestens seit der Weltausstellung von 1889, für die ganze Siedlungen aus den französischen Kolonien nach Paris verschifft wurden, in einem Tropenfieber sondergleichen. Dieses Fieber hatte allerdings wohl nicht zuletzt auch mit den barbusigen Eingeborenenfrauen zu tun, die mitsamt den Hütten ausgestellt wurden.
Gefunden hat Gauguin das Paradies auf Tahiti ganz und gar nicht, wie wir aus seinen Briefen wissen. Gefunden hat er aber einen Ort, an dem es sich billig leben und komfortabel lieben liess - einen idealen Ort, um das Lied von der unverfälschten Natürlichkeit anzustimmen. Ganz spurlos ist die Enttäuschung aber wohl nicht an ihm vorbeigegangen: Auf Tahiti muss sich jene bestimmte Art von Melancholie eingeschlichen haben, die viele seiner Südseephantasien mit einem seltsam geheimnisvollen Schimmer überzieht. Hätte Gauguin auf Tahiti das Paradies gefunden, dann hätte er es ja nicht mit Pinsel und Farbe suchen müssen. Und die Kunst der Moderne wäre um einige ihrer seltsamsten Ikonen ärmer.


Eine Art von Paradies im Blick? Paul Gauguin: Selbstporträt «Les Misérables», 1888. (Bild pd)


erschienen in NZZ, FEUILLETON, 8. Mai 2003 Nr. 105 60