Samuel Herzog

Malen für die Nase

Zwei neue Werke zu Carl Spitzweg (2002)

Wer hat nicht schon rot gesehen, als er vom scheppernden Walkürenritt aus Nachbars Wohnung unsanft den nächtlichen Träumen entrissen wurde? Wer kennt nicht die duftenden Worte im Brief der Geliebten, wer hat sich nicht schon mal ein Gedicht auf der Zunge zergehen lassen, ein säuselndes Grün erspäht oder kreischendes Gelb im Ohr gehabt? Manche Bilder streichen uns mit kalter Hand über den Rücken, und bei gewissen Gerüchen laufen ganze Filme aus unserer Kindheit ab . . . Synästhesie heisst das Fachwort für Phänomene dieser Art, laut Duden die «Miterregung eines Sinnesorgans bei Reizung eines anderen» oder auch die «durch sprachlichen Ausdruck hervorgerufene Verschmelzung mehrerer Sinneseindrücke».
Was sich im Fremdwörterbuch schwarz auf weiss nachlesen lässt, ist in der alltäglichen Erfahrung allerdings meist weniger deutlich wahrzunehmen: Zu fahl ist das Rosa beim Klang der Geige, zu flüchtig die Heizwärme vor einem Bild von Yves Klein. Ja oft sind unsere Sinne zur gleichen Zeit so verschiedenen Reizen ausgesetzt, dass wir in unserem ästhetischen Rasen kaum zu sagen vermögen, welcher Eindruck nun wohl durch welche Reize provoziert worden ist. Dennoch gibt es dieses Phänomen, auch wenn wir es nur selten klar fassen können. Nehmen wir zum Beispiel die Kunst und das Empfinden von Gerüchen: Wenn wir durch eine Gemäldegalerie flanieren, dann fällt es uns ziemlich leicht, die Bilder nach Nasenkategorien zu unterscheiden - einige verströmen einen herrlichen Duft, andere riechen eher übel, dritte haben olfaktorisch gar nichts zu bieten. Natürlich hängen solche Empfindungen auch davon ab, wie hungrig oder satt wir sind. Es gibt jedoch Maler, deren Bilder in uns besonders deutlich Geruchsempfindungen provozieren.
Zu diesen Künstlern gehört Carl Spitzweg - von einigen hoch geschätzt, von vielen als Biedermeier belächelt. Wer das prächtige Werkverzeichnis durchblättert, das Siegfried Wichmann kürzlich im Belser-Verlag herausgegeben hat, der führt auch seine Nase durch das kleinbürgerliche 19. Jahrhundert spazieren. Da gibt es zum Beispiel den «Sonntagsjäger» aus den Jahren um 1845, der von einem Reh in flagranti beim Verzehr eines Hühnchens überrascht wird: Dass uns der Bratenduft des Geflügels in die Nase steigt, wird quasi erzählerisch provoziert. Dass wir indes glauben, auch den Wald zu riechen, hat mit dem bildfüllenden, diffusen Grün und den einfallenden Lichtstrahlen zu tun - es ist vor allem die Sonne, die aus dem feuchten Moos- und Blattwerk jene Düfte löst, die wir mit Wald assoziieren. Wir wissen das aus eigener Erfahrung, wir haben diese Verbindung zwischen dem Sichtbaren und dem Riechbaren verinnerlicht - das Bild braucht sie bloss zu aktivieren.
Dieser Effekt hat mit jenen Vokalfarben nur wenig gemein, die etwa Paul Klee beschäftigt haben. Doch hat Spitzweg immer wieder versucht, auf die eine oder andere Weise der Nase über das Auge etwas zu bieten. Das illustrieren auch die «Koch- und Haushaltsanweisungen» für seine Nichte Line, die eben vom Museum Georg Schäfer in Schweinfurt neu herausgegeben wurden, Blätter voller Witz, in denen der Maler die Namen der Gerichte mittels kleiner Zeichnungen und Collagen illustriert hat. So schiebt sich etwa beim «Suhrfleisch» eine gewichtige Pendule zwischen «S» und «Fleisch» oder steht die «Kaltschale» einsam vor einem Gletscher. Und wer das nächste Mal ein «Rohsbif» vor sich auf dem Teller sieht, der wird sich an Spitzwegs stolzen Hengst erinnern, der mit dem Hinterteil einer Kuh durch die Welt wackeln muss.

Siegfried Wichmann: Carl Spitzweg - Verzeichnis der Werke. Belser-Verlag, Stuttgart 2002. 615 S., Fr. 556.-. Jens Christian Jensen (Hg.): Koch- und Haushaltsanweisungen von dem Maler Carl Spitzweg für seine Nichte Line. Weppert-Verlag, Schweinfurt 2002. 140 S., _ 14.80.



erschienen in NZZ, FEUILLETON, 30. November 2002 Nr. 279 76