Samuel Herzog

Eine Frage der Perspektive

Die neunte Kunstbiennale von Istanbul

«Istanbul» lautet das Thema der Kunstbiennale, die derzeit zum neunten Mal in der Stadt am Bosporus durchgeführt wird. Dem guten Konzept und neuen Ausstellungsorten zum Trotz hinterlässt die Veranstaltung einen zwiespältigen Eindruck.
Welches Bild wir von der Welt haben, hängt wesentlich von der Lage ab, aus der heraus wir die Dinge ins Auge fassen. Nehmen wir zum Beispiel die kaum zehn Zentimeter lange Sardelle, die in einem mit Wasser gefüllten Joghurtkübel auf der Galata-Brücke ihre Runden dreht. Was für ein Bild der multiplen Millionenstadt Istanbul wird sie haben? Unmittelbar über sich dürfte sie den Fischer sehen, der sie eben mit seiner Vier-Meter-Rute aus dem Goldenen Horn gezogen hat. Dahinter vielleicht noch die Silhouette des Stadtteils Beyoglu, den Galata-Turm mit seinem charakteristischen Dach. Viel ist das nicht. Aber immerhin: Es ist ein sehr subjektives Bild von Konstantins grosser Polis.

Spielfreudige Männer

«Istanbul» lautet das Generalthema der Kunstbiennale, die derzeit zum neunten Mal im wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum der Türkei durchgeführt wird. Um Themen, die direkt mit der Stadt und ihren Eigenheiten zu tun haben, geht es naturgemäss vor allem in den Werken jener Künstler, die hier leben oder im Vorfeld der Biennale vor Ort gearbeitet haben. Pilvi Takala aus Helsinki etwa hat sich für jene in der ganzen Türkei verbreiteten Teehäuser interessiert, in denen Männer während Stunden mit Spielen wie «Okay» oder «51» beschäftigt sind. Gemeinsam mit drei anderen Frauen, und natürlich in Hosen, hat die junge Finnin einige dieser Männerbastionen gestürmt - und mit versteckter Kamera die Reaktionen des starken Geschlechts aufgezeichnet. Michael Blum aus Wien präsentiert ein charismatisches Wohnmuseum, mit dessen Hilfe er der türkischen Feministin und Marxistin Safiye Behar ein Denkmal setzt. Dan Perjovschi aus Bukarest hat auf einer Kellerwand mit schwarzem Stift Istanbuler Impressionen und Assoziationen hinterlassen. Und Sener Özmen aus Diyarbakir im Osten der Türkei legt gar einen ganzen Reiseführer von Istanbul vor. Formal gleicht das Buch einem beliebigen Touristenführer der Stadt, inhaltlich aber ist es ganz und gar auf die Erlebniswelt eines Künstlers zugeschnitten, der die Stadt immer auch durch die Brille seiner eigenen Tätigkeit und das Schlüsselloch des Betriebs zu sehen geneigt ist.
Sieht man von einigen weiteren Arbeiten ab, sucht man allerdings in vielen Werken dieser Schau vergeblich nach einer direkten Verbindung zum Thema. Aber natürlich kann man mit einem gewissen Recht behaupten, dass in einer multikulturellen Metropole wie Istanbul die meisten Fragen und Probleme dieser Welt eine gewisse Rolle spielen: Für die Folgen des Golfkriegs (Sean Snyder) gilt das zweifellos - und auch die städtebaulichen Probleme in Seoul (Flying City), Jakarta (Tintin Wulia) oder Berlin (Axel John Wieder und Jesko Fezer) lassen sich mit Istanbul in Verbindung bringen. Bei anderen Werken, etwa den Ikonen der slowenischen Gruppe Irwin oder den zarten Malereien von Silke Otto-Knapp, braucht es etwas mehr Phantasie.
Bei so vielen engagierten Arbeiten ist eigentlich erstaunlich, dass der Besuch dieser Biennale so wenig Begeisterung auslöst - waren doch auch die Voraussetzungen geradezu optimal. Erstens haben sich die Kuratoren Charles Esche und Vasif Kortun nämlich bemüht, nebst einigen Biennale-Klassikern wie Hüseyin Alptekin, Pawel Althamer, Maria Eichhorn oder Johanna Billing vor allem auch Künstler auszuwählen, deren Namen sich noch nicht reibungslos in einem Atemzug mit den grossen Kunst-Events von Venedig, Lyon, Moskau, Berlin oder Schanghai aussprechen lassen. Zweitens haben sie sich auf ein angenehm konkretes Thema geeinigt, das weder lyrisch verblasen noch theoretisch verdreht ist. Drittens haben sie im Vorfeld der Ausstellung vielen Künstlern die Gelegenheit gegeben, im Rahmen von längeren Aufenthalten in der Stadt dieses Thema zu bearbeiten. Und viertens haben sie bewusst darauf verzichtet, die touristisch attraktiven, stark mit der grossen Vergangenheit der Stadt verbundenen Ausstellungsorte früherer Biennalen zu bespielen - die Yerebetan-Zisterne oder die Irenen-Kirche zum Beispiel sind frei von zeitgenössischer Kunst geblieben. Im Gegenzug haben Esche und Kortun ihre Schau in Gebäuden placiert, die mehr mit der jüngeren Geschichte der Stadt und ihrer gegenwärtigen Situation zu tun haben: Die neunte Istanbul-Biennale findet in einem Wohnhaus, einem ehemaligen Tabaklager, einer Fabrikhalle am Hafen, einer Bank und diversen kleineren Räumen statt.

Suche nach gültigen Formeln

All dies sind Strategien und Entscheide, die eigentlich zu einer überaus lebendigen Ausstellung hätten führen müssen. Was also ist schiefgegangen? Vielleicht liefert die kleine Sardelle auf der Galata-Brücke eine mögliche Antwort, die den Fischer über ihrem Joghurt-Aquarium leidenschaftlich hasst und sich nichts mehr wünscht, als ins Wasser zurückzuspringen. So beschränkt ihr Blick auf die grosse Stadt auch sein mag - es ist ihr Blick. Und genau den sucht man sowohl beim Konzept der Kuratoren wie auch bei vielen künstlerischen Beiträgen vergeblich: Anstatt subjektive Blicke auf die Stadt zu werfen, haben viele nach allgemein gültigen Formeln gesucht; anstatt sich für ihre eigenen Emotionen und, warum auch nicht, Klischees zu interessieren, haben sie zu illustrieren versucht, dass sie keine Vorurteile und das Herz am rechten Fleck haben. Und das ist naturgemäss nicht gerade mitreissend.
Als Beispiel kann hier der dokumentarisch angelegte Videofilm «Murat and Ismail» des Italieners Mario Rizzi dienen. Es ist das Porträt eines in Beyoglu tätigen Schuhmachers, seiner Umgebung und seiner familiären Probleme. Rizzi scheint sich darauf beschränkt zu haben, die Kamera achtzig Minuten lang fasziniert auf das zugegeben charismatische Objekt seines Films zu richten - eine eigene Haltung zum Geschehen wird nirgends spürbar. Gleichzeitig scheint er vergessen zu haben, dass niemand vergisst, wenn eine Kamera auf ihn gerichtet ist. Das führt dazu, dass der Film - mehr und mehr vom Diskurs seines Protagonisten bestimmt - nicht nur zum Monolog mit Statisten verkommt, sondern wegen mangelnder Perspektivenwechsel auch an Glaubwürdigkeit verliert. So sehr, dass man sich fragt, ob die ganze Sache nicht vielleicht doch ironisch gemeint sei. Glaubwürdigkeit ist, zumindest im Bereich der visuellen Medien, etwas, das unter Berücksichtigung der eigenen Haltung gegenüber der Welt gestaltet werden will - von alleine stellt sie sich im Medium Film jedenfalls nur selten ein. Und wenn Glaubwürdigkeit hier kein Ziel war - worum ging es dem Künstler dann?
Klar, das rigoros Subjektive ist immer auch rigoros beschränkt - aber es produziert im Zweifelsfall die spezifischeren Ansichten der Welt. Und dürfen wir in einer Zeit, wo uns die Medien mit Allgemeingültigem doch gut versorgen, von der Kunst nicht gerade das erwarten?

Istanbul. 9th International Istanbul Biennial. Diverse Orte. Bis 30. Oktober. Katalog. Informationen unter http://
www.iksv.org.



erschienen in NZZ, Mittwoch, 28.09.2005 / 45