Samuel Herzog

Wenn John Lennon endlich lächelt

«Expérience de la durée» - die achte Kunstbiennale von Lyon

Die achte Kunstbiennale von Lyon hat sich der «Erfahrung der Dauer» verschrieben. Nebst interaktiven Installationen, die den Einsatz der Betrachter fordern, gehören dazu etwa auch Dialoge zwischen Werken der siebziger Jahre und Arbeiten unserer Tage.
Wer unter dem majestätischen Blick von Notre- Dame de Fourvière durch die Altstadt von Lyon schlendert, fühlt sich in eine andere Zeit versetzt. Denn da werden an allen Ecken und Enden Hilfsmittel für bleiche Mitteleuropäer angeboten, die den Inder in sich entdecken oder den Rastafari aus ihren Tiefen befreien wollen: gestickte Hemden und handgefärbte Tücher, Haschpfeifen und Räucherstäbchen der Marke Eternal Love. Das ist, als wären sie plötzlich wieder da, die farbigen Tage unserer Jugend. Die Stunden unseres ersten Kusses - natürlich im Rahmen einer Anti-AKW-Demonstration. Und der Moment unserer ersten Zigarette, die wir im Anschluss an eine Solidaritätskundgebung für Nicaragua aus den Händen einer echten Türkin empfingen. Wie viele Jahre sind seither vergangen, was ist alles passiert? Wenn sich Moden wiederholen, dann treibt das manchmal ein Kaleidoskop durch die Zeit, in dem wir uns selbst gleich tausendfach erblicken.

Kreuz und quer durch die Stadt

Um ähnliche Erlebnisse geht es auch der achten Kunstbiennale von Lyon, die sich der «Erfahrung der Dauer» verschrieben hat und allerlei Bögen durch die Zeit schlägt. Die Gastkuratoren Nicolas Bourriaud und Jérôme Sans, eigentlich die künstlerischen Leiter des Pariser Kunstlabors Palais de Tokyo, haben mit Arbeiten von mehr als sechzig Künstlern einen Ausstellungsparcours zusammengestellt, der uns kreuz und quer durch die Stadt jagt: von der Sucrière, einem ehemaligen Lagerhaus im südlich des Zentrums gelegenen Port Rambaud, bis zu dem von Renzo Piano erbauten Musée d'Art Contemporain, das im Norden der Stadt den zauberhaften Parc de la Tête d'Or mit seinen Weihern und Pflanzenhäusern, Elefantengehegen und Tigerfelsen überragt, und vom Fort Saint-Jean im Westen über das zentral gelegene Rectangle d'Art bis zum Institut d'Art Contemporain im östlichen Vorort Villeurbanne.
Wer versucht, um fünf Uhr abends mit Taxi oder Bus von einem Ausstellungsort zum nächsten zu gelangen, der hat dann tatsächlich eine erste «Expérience de la durée». Ganz so ist das natürlich nicht gemeint. Denn Bourriaud und Sans wollen mit ihrer Biennale drauf bestehen, dass Kunst eine Art von Erfahrung darstellt, die den Betrachter fordert, die Zeit vom Publikum will. Und sie wollen vermeiden, dass sich ihre Veranstaltung ebenfalls «in den schnellen Wechsel der Werte einschreibt, der internationale Grossausstellungen manchmal zu sehr bestimmt». Zeitgenossen mit Hang zum Süffisanten werden nun heftig nicken und anmerken, das sei den Kuratoren ja schon dadurch gelungen, dass sie kaum unbekannte Namen in ihre Ausstellung aufgenommen haben. So ist es - doch können ja vielleicht auch Déjà-vu-Erfahrungen als eine Art «Expérience de la durée» angesehen werden.
Ein wichtiges Werkzeug beim Versuch, das Zeitliche in der Kunst bewusst zu machen, war den Kuratoren der Dialog zwischen Arbeiten der Gegenwart und Werken aus den siebziger Jahren. Heute wie damals erkennen Bourriaud und Sans eine Tendenz unter den Künstlern, der Konsumgesellschaft alternative Lebensformen und Sichtweisen entgegenzuhalten. Und also spannen sie den Bogen etwa von den Lichtinstallationen eines James Turrell bis zu den Nebelräumen der Belgierin Ann Veronica Janssens. Turrell lässt uns zehn Minuten lang lang still in einem völlig dunklen Raum sitzen - bis vor uns schliesslich ganz schwach ein oranger Kreis sichtbar wird. Bei Janssens hingegen tappen wir durch einen grünen Nebel - an ruhigen Tagen ebenfalls eine durchaus meditative Erfahrung, die allerdings mit zunehmendem Besucherstrom schnell zum bizarren Gesellschaftsspiel verkommt. Aus einem ähnlichen Geist heraus wird in der Ausstellung ein Dieter Roth mit einem John Bock oder Tom Marioni mit Erwin Wurm unaufdringlich in einen Dialog gebracht.
Beim Thema Dauer darf natürlich auch der Film «Sleep» von Andy Warhol nicht fehlen - sechs Stunden lang hat der Künstler 1963 seine Kamera auf einen Mann gerichtet, der nichts anderes tat, als zu schlafen. Sein heutiges Pendant findet «Sleep» vielleicht am ehesten in den Naturbeobachtungen eines Henrik Håkansson. In Lyon zeigt der Schwede das Filmprojekt «24 H Flower», das er am 5. und 6. August dieses Jahres aufgezeichnet hat: Auf 24 Bildschirmen gibt es da je eine Stunde aus dem Leben einer «Cirsium acadule» zu sehen. Was uns unvermittelt an das Diktum von John Cage erinnert, wonach auch dann etwas passiert, wenn gar nichts los ist.

Muschelhorn nach Mitternacht

Erfahrungen der Dauer werden hier auch noch auf andere Weise vermittelt. Begegnen wir doch im Rahmen dieser Biennale zahlreichen Arbeiten, bei denen ein schneller Blick nicht genügt, die uns zum Mitmachen auffordern - oder gelegentlich auch fast ein wenig zwingen. Bei Martin Creed etwa müssen wir uns durch einen Raum kämpfen, der bis unter die Decke mit rosaroten Luftballons gefüllt ist. La Monte Young & Marian Zazeela lassen uns in Socken durch ein flauschiges Ambiente traben, wo pulsierende Sounds einem den Kopf verdrehen. Und Surasi Kusolwong stellt in einem schalldichten Salon mit grossen Vitrinen allerlei Musikinstrumente zur Verfügung, mit deren Hilfe wir uns vor den Augen der anderen Ausstellungsbesucher zum Narren machen können. Kusolwong verkennt dabei leider, dass der wahre Anarchist erst nach Mitternacht zum Muschelhorn greift - wie der Mann in einem obskuren Video, das derzeit in Lyons Metrostationen gezeigt wird.
Es gibt allerdings auch Arbeiten auf dieser Biennale, die unsere Zeit ganz ohne solche Interaktivität erfolgreich in Anspruch nehmen. In dem Film «My birds . . . trash . . . the future . . .» von Paul Chan verlieren wir uns in den gezeichneten Weiten einer Wüste, wo ein ausgedörrter Baum zum Schauplatz eines psychedelischen Theaters wird. Kendell Geers fesselt uns in seiner kryptischen Installation mit satanischer Wucht, Tom Marioni mit Bier und Witz, Jun Nguyen-Hatsushiba mit Poesie, Saâdane Afif mit der Melancholie von Gitarrenakkorden - und bei Yoko Ono ist es das Lächeln von John Lennon, das uns für Minuten hypnotisiert. Schiere Brutalität hält uns hingegen bei den «Flying Rats» von Kader Attia für Minuten in Bann: In einer grossen Voliere hacken da Tauben mit hungriger Lust auf farbig bekleideten Kinderfiguren herum - kein Wunder, hat der Künstler die Körper der Kleinen doch aus Vogelfutter geformt. Entfernt erinnert uns das an die Maus, die wir nach unserem ersten Konzert von Sham 69 auf der Schulter zu tragen in Erwägung zogen - damals, als die Kids noch «united» waren. So ein Nager kommt heute wohl nicht mehr in Betracht - aber die feuerrote Lederjacke, die könnte vielleicht noch passen.

Expérience de la durée. Biennale d'art contemporain de Lyon. Diverse Orte in Lyon und Villeurbanne. Bis 31. Dezember 2005. Katalog _ 39.-. Informationen unter: http://
www. biennale-de-lyon.org.



erschienen in NZZ, Feuilleton Freitag, 07.10.2005 / 43