Samuel Herzog

Liest August Mackes Frau bald in Übersee?

Ein Bild des Aargauischen Kunstvereins wird von der Erbin des einstigen Besitzers zurückverlangt.

Ohne öffentliche Debatte hat Berlin die «Berliner Strassenszene» von Ernst Ludwig Kirchner an die Erbin einer von den Nazis verfolgten Familie restituiert. Im Kunsthaus Aarau hängt ein Bild von August Macke, das einst derselben Familie gehörte - auch hier liegt ein Restitutionsbegehren vor. Das wirft Fragen auf, die über den Fall hinausweisen.

   Eigentlich ist es erstaunlich, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, ein eigenes Journal für Raubkunst und Restitution zu gründen. Angesichts der zahllosen Bilder mit noch nicht restlos geklärter Provenienz, die unsere Museen füllen und in privaten wie öffentlichen Sammlungen glänzen, wäre einem solchen Medium ein nie versiegender Themenstrom garantiert. Als potente Inserenten würden sich wohl vor allem die zahllosen Anwaltskanzleien anbieten, die mit dem juristischen Kampf um Bilder Jahr für Jahr Millionen verdienen. Doch solange es noch kein spezialisiertes Journal für Raubkunst gibt, schaffen es eben nur manche Fälle bis in die Medien - derweilen andere abseits solcher Öffentlichkeit mehr oder weniger fair gelöst werden oder eben auch nicht.

   Der jüngste Fall, der es bis in die Medien geschafft hat, ist kaum sensationeller als andere - und doch will es die Medien-Logik, dass er, einmal in das Licht der Öffentlichkeit gezerrt, von allen Seiten beleuchtet und beschienen wird. Es handelt sich um ein Bild, das dem Aargauischen Kunstverein gehört und im Kunstmuseum Aarau hängt: «Garten mit lesender Frau (am Thunersee)» von August Macke, datiert auf das Jahr 1914. Der Zürcher «Tages-Anzeiger» hat diesem Fall und seinem Kontext am vergangenen Mittwoch eine ganze Seite gewidmet.

Berlin ohne «Berliner Strassenszene»

   Das Macke-Bild gehörte einst zu der Sammlung des jüdischen Schuhfabrikanten Alfred Hess aus Erfurt und ging nach dessen Tod 1931 an dessen Sohn Hans Hess über, der 1933 aus Deutschland emigrierte. Bei seiner Emigration deponierte Hans Hess die Sammlung bei seiner Mutter Tekla Hess. Auf Vermittlung von Wilhelm Wartmann, dem damaligen Direktor des Kunsthauses Zürich, gelangte ein beträchtlicher Teil der Sammlung 1933 nach Basel, dann nach Zürich, wo die Kollektion in einer Sonderausstellung gezeigt wurde. Im Anschluss an die Schau wurden einige Werke verkauft, einige nach Deutschland zurückgeschickt, und einige verblieben im Kunsthaus Zürich. Mackes «Garten» gelangte irgendwann nach dem Frühling 1937 von Zürich aus in die Berner Galerie Gutekunst & Klippstein. Diese verkaufte das Bild und überwies den Betrag auf das Konto von Julius Hess, einem Berner Antiquar, der fälschlicherweise als Bruder von Tekla Hess gegolten hat. Es steht nicht fest, ob Tekla Hess dieses Geld je erhalten hat. Mackes «Garten» wurde in den folgenden Jahren mehrfach verkauft und gelangte schliesslich 1983 als Legat in den Besitz des Aargauischen Kunstvereins.

   Vor einem Jahr nun trat der Anwalt Peter Schink auf den Plan. Er vertritt Anita Halpin, die Erbin der von den Nazis verfolgten Familie Hess. Schink forderte den Kunstverein auf, die Provenienz des fraglichen Macke-Bildes aufzuklären und es gegebenenfalls zu restituieren.

Fehlende juristische Abklärung

   Nebst dem Macke-Bild hatte Schink auch noch ein zweites Bild im Visier, das ursprünglich zu der Sammlung Hess gehörte: Ernst Ludwig Kirchners «Berliner Strassenszene» von 1913, das bis vor kurzem im Berliner Brücke-Museum hing. Dieses Bild verkaufte Tekla Hess 1937 über den Kölner Kunstverein an den Sammler Carl Hagemann - möglicherweise weil sie Geld brauchte, um die sogenannte «Judenvermögensabgabe» zu bezahlen. Die Hagemann-Erben schenkten das Bild nach 1945 dem damaligen Direktor des Frankfurter Städel-Museums, und dessen Witwe verkaufte es 1980 für 1,9 Millionen Mark an das Berliner Brücke-Museum.

   Nach längeren Verhandlungen wurde das Kirchner-Bild Ende Juli vom Berliner Kultursenator Thomas Flierl an die Erbin Anita Halpin zurückgegeben, die es im kommenden November bei Christie's in New York versteigern will - für einen geschätzten Betrag von rund 20 Millionen Dollar. Das entscheidende Argument für die Rückgabe des Bildes war das Fehlen einer Quittung über den Verkauf des Bildes an den Sammler Hagemann. Tatsächlich allerdings tendieren Restitutions-Fachleute vor allem in Deutschland, namentlich die seit 2003 bestehende Beratende Kommission, ohnehin dazu, alle Kunstverkäufe, die Juden zwischen 1933 und 1945 tätigten, als erzwungen, weil verfolgungs- und repressionsbedingt anzusehen - gleichgültig auch, ob diese Verkäufe in Deutschland oder im Ausland stattgefunden haben.

   Trotzdem kann man sich fragen, warum Berlin nicht eine juristische Abklärung vorgenommen oder den Fall wenigstens öffentlich zur Debatte gestellt hat. Flierls vorauseilender Gehorsam gegenüber den amerikanischen Anwälten der Erbin und der Umstand, dass diese Ikone des deutschen Expressionismus unter Ausschaltung der Öffentlichkeit ausser Landes gebracht wurde, haben denn auch verschiedentlich harsche Reaktionen provoziert. So stellte etwa der in Restitutionsfällen versierte Rechtsanwalt Peter Raue im «Tagesspiegel» fest, die Restitution sei aus seiner Sicht «nicht fair und nicht gerecht gewesen». Niemand wisse, so Raue, welche Überlegungen Senator Flierl dazu veranlasst hätten, das Bild bedingungslos herauszugeben, «ohne öffentliche Diskussion, ohne Einberufung einer sachkundigen Diskussion, ohne Experten-Gutachten». Und Wolfgang Henze, der Direktor der Galerie Henze & Ketterer und Verwalter des Ernst-Ludwig-Kirchner-Archivs in Wichtrach bei Bern, warf dem Berliner Senat in einem Protestschreiben «dilettantisches Handeln» vor. Flierl aber beharrte in seiner Antwort auf diese Anschuldigungen darauf, dass Berlin moralisch und rechtlich verpflichtet gewesen sei, das Bild zu restituieren - und schlug vor, dass man es ja nun bei Christie's in New York ersteigern könne. (Eine ausführlichere Dokumentation dieses Falles, der hier nur summarisch wiedergegeben werden kann, findet sich auf der Website www.artnet.de).

Verschiedene Gründe für den Verkauf

   Der Fall des Macke-Bildes ist ähnlich, wenn auch nicht ganz gleich wie der des Berliner Kirchner-Bildes. Zentral scheint auch hier die Frage, ob Tekla Hess das Bild verfolgungsbedingt hat verkaufen müssen oder nicht. Eine Frage, die im Fall Hess besonders schwer zu beantworten ist - denn das Unternehmen von Alfred Hess geriet 1929 in Zahlungsschwierigkeiten, und die Familie musste Bilder aus der Sammlung verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Trotzdem ist natürlich nicht auszuschliessen, dass der Verkauf des Macke-Gemäldes als ein Resultat der Repression durch die Nazis anzusehen ist.

   Gerichtlich dürfte eine Restitution des Macke-Gemäldes wohl kaum zu erwirken sein - das wäre auch im Fall des Berliner Kirchner-Gemäldes wohl nicht möglich gewesen. Moralisch indes lässt sich der Fall weniger schnell entscheiden.

   Wie aber reagiert man in Aarau? Nach Auskunft von Josef Meier, der seit kurzem den Aargauischen Kunstverein präsidiert, wurde der Fall «juristisch sauber abgeklärt». Dabei sei man zum Ergebnis gelangt, dass Mackes «Garten» nicht restituiert werden müsse - weder nach Schweizer Recht noch nach Massgabe der für die Restitutionspolitik vieler Länder bestimmenden «Grundsätze der Washingtoner Konferenz in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden». Der Fall wurde laut Meier auch der seit 1999 bestehenden Anlaufstelle Raubkunst des Bundesamtes für Kultur (BAK) unterbreitet. «Das Dossier ist uns bekannt», sagt Yves Fischer, der Leiter der Fachstelle internationaler Kulturgütertransfer beim BAK, die auch die Aufgaben der Anlaufstelle Raubkunst wahrnimmt: «Wir haben Mediations- und Vermittlungsdienste angeboten, die jedoch in der Folge nicht beansprucht worden sind.»

   So weit die juristische Lage - wie aber steht es um die moralische Situation? Josef Meier: «Wir haben die moralische Frage eingehend besprochen und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir auch moralisch nicht verpflichtet sind, das Bild zu restituieren.» Sollte der Fall weitere Kreise ziehen, wäre der Kunstverein allerdings gut beraten, eine externe Kommission einzusetzen, die ihn bei seinem weiteren Vorgehen berät - denn eine Entscheidung des Kunstvereins ist, wie auch immer sie ausfällt, in jedem Fall subjektiver gefärbt als das Urteil einer externen Kommission. Ausserdem ist eine eventuelle Fehleinschätzung durch Dritte weniger belastend für die weitere Arbeit des Vereins als eine, die selbst verantwortet werden muss.

Offene Fragen

   Bestimmt verdient auch der Fall des Macke-Bildes eine gewisse Öffentlichkeit - die offensive Kommunikation des Restitutionsbegehrens durch den Kunstverein war sicher die richtige Strategie. Was in dem Falle weiter geschieht, wird sich zeigen. Die Öffentlichkeit sollte sich jedoch generell hüten, Druck in eine bestimmte Richtung auszuüben oder auch moralische Prüfsteine durch die Fenster all jener Institutionen zu werfen, die über Bilder mit noch nicht hundertprozentig geklärter Geschichte verfügen. Denn hundertprozentig lässt sich die Geschichte vieler Bilder eben heute auch gar nicht mehr klären - weder juristisch noch moralisch. Auf einen ersten Blick mag es zwar moralisch richtig scheinen, die Bilder im Zweifelsfall zu restituieren - so wie das im Fall des Berliner Kirchner-Gemäldes geschah. Das Wissen darum, dass das Bild aber dann auf einer Auktion versteigert werden könnte, dass es vielleicht aus seinem historischen Kontext (etwa dem Brücke-Museum) oder gar ganz aus der Öffentlichkeit verschwinden könnte, sollte dennoch in die Entscheidungsfindung einfliessen.



erschienen in NZZ, Samstag, 30.09.2006 / 49