Samuel Herzog

Am schwabbelnden Teich

Ihre kulinarische Offenheit hat den Chinesen aus Guangzhou den Ruf eingebracht, wilde Kerle zu sein, die mit ihren Essstäbchen wahllos riesige Schneisen kreuz und quer durch die Fauna und Flora unseres Planeten fräsen - und nicht zuletzt auch westliche Touristen mit Delikatessen wie gesottenem Affenhirn oder Schlangengalle erschrecken. Dass in Guangzhou auch sonst alles «freier (weil weit von Peking und der Zentralregierung entfernt), sinnlicher, experimenteller und verrückter» ist als in anderen chinesischen Städten, versucht derzeit eine Ausstellung im Kunstmuseum Bern zu illustrieren, die kantonesische Gegenwartskunst aus der Sammlung Sigg präsentiert.

   Wo der Alltag dermassen wild ist, erstaunt es kaum, dass viele Künstler sich auf dessen Dokumentation beschränken: So porträtiert Xu Tan einen chinesischen Countrysänger, führt uns Zeng Han durch Bauruinen und Yan Changjiang durch einen Drive-in-Zoo, der auch nachts geöffnet hat. Durch die poetischen Videobilder von Cao Fei und Ou Ning betreten wir ein Dorf, das von der Grossstadt Guangzhou geschluckt worden ist - in dem sich aber doch noch Spuren eines eher ländlichen Lebens erhalten haben.

   Im Zentrum der Schau schliesslich treffen wir auf die Installation «My Home is My Museum» von Zheng Guogu, die ein wenig aus den Fugen geraten ist. Da gibt es einen Teich aus zerknüllten, kalligraphischen Blättern, die mit Hilfe von Motoren in eine ruckelnde Bewegung versetzt sind. Drumherum stehen blühende Kirschbäume aus Plastic sowie metallische Nachbildungen von Alltagsgegenständen. An den Wänden schliesslich hängen massenweise kleine Fotos von Fernsehbildern. Ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen dieser Installation ist nicht wirklich ersichtlich - doch wer weiss, vielleicht würde sich das Ganze von der Brücke aus besser erschliessen, die über den Schwabbelteich führt. Leider dürfen wir sie nicht betreten.

   Der Aufbau dieser Schau, aber auch die Exponate erinnern stark an die grosse Chinaausstellung, mit der das Museum im vergangenen Jahr bereits die Sammlung Sigg präsentierte. Ja überhaupt stammt, was als chinesische Kunst in Europa gezeigt wird, oft aus der Sammlung Sigg - schon seit der venezianischen Biennale von 1999. Und da stellt sich dann doch auch die Frage, was wir hier eigentlich sehen. Sicher vermittelt uns diese Ausstellung einen Einblick in die zeitgenössische Produktion in Guangzhou - aber wie sehr ist es der Blick von Uli Sigg, der bestimmt, was wir als chinesische Gegenwartskunst wahrnehmen? Überprüfen können wir das im Moment noch nicht.

Guangzhou. Künstler aus Kanton aus der Sammlung Sigg. Kunstmuseum Bern. Bis 7. Mai 2006.


erschienen in NZZ, Samstag, 15.04.2006 / 50