Samuel Herzog

Drama pur


Après nous le déluge - wer so viel Wasser hinter sich weiss, der braucht sich um die Moral nicht zu scheren. Und also legt sich der Mensch ins Gras, greift zur Mandoline oder Flasche, lässt sich Bauch und Busen streicheln - so wie in der «Menschheit vor der Sintflut», die Cornelis van Haarlem 1615 malte. Welch herrlich fleischiger Müssiggang - wen wundert's, dass sich der liebe Gott da genötigt sieht, den Herrschaften auf die Sprünge zu helfen. Also schickt er die Flut. Und sie rennen los, hinauf, hinauf auf Berge, Bäume und Dächer - schnell einmal hängt da das Schicksal einer ganzen Familie an einem einzigen Ast, wie in der «Scène de déluge» von Anne-Louis Girodet (1806). Doch es wird ihnen nichts nützen - alles Klettern, Klammern und Schwimmen nicht. Wer nicht bei Noah in der Arche sitzt, der hat bei der grossen Weltwässerung keine Chance. Auch auf Noahs Boot allerdings ist das Überleben kein Zuckerschlecken, eng ist es und muffig - ausserdem muss man die Kajüte mit der Schnabelgans und einem Untier namens Dromedar teilen, das sich nicht gerne wäscht und ganz entsetzlich schnarcht. Mit viel Sinn für das Ordentliche führt uns der Kupferstecher C. Desker Mitte des 16. Jahrhunderts vor, wer sonst noch an Bord überlebt - halb Zoo, halb Gruselkabinett. Doch auch der grösste Spritzer Gottes hat einmal ein Ende, sogar im Video «The Raft» von Bill Viola - man rafft sich auf, schüttelt das Wasser aus den Haaren, fällt sich erlöst in die Arme. Tränen der Freude und des Schmerzes. Restart. Die Geschichte der Sintflut hat die Künstler durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder fasziniert - als Metapher für Sünde und Sühne, als Symbol für Zerstörung, Tod und Neubeginn. Wie inspirierend das Thema für die Künste ist, illustriert derzeit auch eine ebenso lehrreich wie vergnüglich gemachte Ausstellung im Musée des Beaux-Arts von Lausanne: «Visions du déluge» bietet Drama pur, da bleibt kein Auge trocken.


erschienen in NZZ, Samstag, 24.03.2007 / 54