Texte zu Renée Levi



Vom Geist aus der Sprühdose

von Jacqueline Burckhardt

Das Spraybild, Medium einer klandestinen Graffiti-Szene in der spontaneistisch aufbegehrenden Straßen(sub)kultur hat seit Jahren Einzug in den öffentlich diskursiven Bereich in und außerhalb der Kunstwelt gehalten.
Renée Levis Spray-Arbeiten, die den wichtigsten Werkkomplex der letzten Jahre bilden, entstehen aus dem inneren Dialog zwischen Levi, der Künstlerin, und Levi, der ausgebildeten Architektin mit dem Seitenblick auf soziokulturelle Kontexte. Der Dialog aus doppelter Perspektive ist analytisch und emotional, entscheidend für die stets selbstbewusste Präsenz ihrer großen markierenden Interventionen. Nicht das Primat der Harmonie zwischen Architektur und Kunst ist gesucht. Viel eher fordert die Wirkungskraft eines Wandbilds, etwa jenes in der Schalterhalle einer Basler UBS-Filiale, die Architektur irritierend heraus: Raumachsen werden umgewichtet, Türe und Lüftungskörper negiert und andererseits vier Überwachungskameras, die in der Regel diskret getarnt sind, zelebriert. Eyes heißt bezeichnenderweise jene Arbeit.

In jedem Fall gilt: Diese Kunst passt sich nicht domestiziert ihrer Umgebung an, sondern wirkt deutlich verändernd auf deren Identität ein. Neue Räume werden aufgetan, keine illusionistischen Bildräume, sondern Raumbilder und Farbräume, stimulierende Reizzonen, Kräftefelder, energiegeladene Denkräume. Levi erzeugt sie mit dem Instrument der Spraydose, die sie in einem gleichsam tänzerischen Vorgang und mit einem, in variablen Rhythmen vollzogenen Duktus führt. Während des körperlich performativen Akts bespielt sie in wenigen Stunden weite Wandflächen, Paneele oder Papierbahnen. So klein der Aufwand an Zeit und Material, so groß die Wirkung. Die Arbeiten sind Würfe, Würfe im wörtlichen Sinn, denn mit der Sprühkraft des Treibgases setzt sich die Farbe schwebend leicht auf die Oberfläche der Malgründe auf, auch auf solche, die keinen Pinselauftrag halten würden. Ein Charakter der Vorläufigkeit und Vergänglichkeit haftet diesen Strukturen aus Luft und Farbe an, als wollten sie nicht ewig und unwandelbar einen Ort besetzen, als wären sie schwerelos wie fliegende Teppiche vorübergehend an einem geeigneten Ort gelandet.

Diese Bewegungslust überträgt sich auf den Betrachter. Vor Levis installativen Arbeiten bleibt niemand stehen. Aus der Nähe gesehen lässt sich der Sprayakt weitgehend nachvollziehen. Den Atem bis zu achtzehn Sekunden anhaltend ist zu verfolgen, wie lange der Sprühknopf gedrückt blieb, wo die Dose angesetzt, wie schnell und aus welcher Distanz sie geführt wurde. In zeichnerischen Entladungen findet Energie ihre Form, leidenschaftlich aber – wie es diese spezifische Technik verlangt – kontrolliert. Heute hat die Künstlerin Virtuosität in der Handhabung der Spraydose erlangt, zaubert aus ihr die feinsten Schleier, modelliert blitzschnell in präzisen Gesten Farbintensität und Formen. Aber um Bravour geht es nicht. Diese besitzt nur gerade den Stellenwert einer selbstverständlichen Voraussetzung, um sich auf die Form und die Oberfläche zu konzentrieren.

Die Sprayfarben sind grell leuchtend, häufig fluoreszierend, jedenfalls solche, die von Natur aus Raum und Aufmerksamkeit fordern. Ihr entsprechend ist die Textur der Linienzeichnungen expressiv, handschriftlich und reizt - obschon nahezu unstofflich - nicht nur die Netzhaut. Auf dem Bildgrund, der bis zur hierarchischen Gleichwertigkeit mitspielt, wirkt sie geradezu physisch zum Anfassen. Die vibrierende Malerei spricht von der reflektierten Seherfahrung mit Film und TV, denn sie erscheint zuweilen wie die Momentaufnahme eines virtuellen Bildes, das für einen Augenblick Körper gewonnen hat. Dass die eigene Lichtenergie der Farbe dem Bild Lebendigkeit verleiht, wird endgültig evident, wenn Levi phosphoreszierende Farben einsetzt, solche, die sich als nachtaktiv entpuppen und dann erloschen sind, wenn alle anderen strahlen.
Zu den abenteuerlichsten Betrachtungen locken zwei orange fluoreszierende Arbeiten. Die eine war in Basel während der Art Unlimited 2001 zu sehen, die andere von 2002 mit dem Titel Orangen ist an der Decke der Hochschulrektorenkonferenz und Studienstiftung des deutschen Volkes in Bonn ausgeführt. In beiden entfaltet sich ein Gewirr von erregten Fasern, Faltungen, Wucherungen, Wülsten, Windungen und Anschwellungen. Gewebeartige, turbulente Ordnungen verdichten sich stellenweise, befinden sich im Zustand zwischen Formwerdung und Auflösung. Den wilden Assoziationen manifestieren sie sich als riesige Zeichnung eines Gehirns, als Nahbild eines werdenden Sterns oder als Sicht auf ein grenzenloses, chaotisches Labyrinth.

Levis Spray-Arbeiten, mit dem gebrauchsfertigen industriellen Werkmaterial aus dem Do-it-yourself-Laden geschaffen, öffnen eine Tür ins Bildarsenal frühzivilisatorischer Zeiten, erproben die elementaren Zeichen, die seit Menschengedenken im kollektiven Gedächtnis transportiert werden und erzählen ebenso von eiskalten wie glühend heißen Energien. Sie enthalten Zeichen, die auch der Kultur des Ornaments zugrunde liegen. Das Universum des Ornaments, eine der Quellen der abstrakten, ungegenständlichen Malerei und in der digitalen Bildwelt ausführlich thematisiert, ist auch für Levi grundlegend inspirativ. Das verraten ihre Kleider, die Wahl des Vorhangstoffs in einer Kunst am Bau–Arbeit von 1996, die die Fassade eines Wohnhauses in Basel beseelt, oder Assemblagen aus dem Jahr 1997 von gemusterten Tapetenbahnen, die sie direkt an die Wand pinnt.
Levi greift auf eine Bildsprache zurück, die von formalen oder symbolischen Orthodoxien unbelastet ist. Zwar sieht sie in jeder ihrer Arbeiten die atmosphärische Stimmigkeit und kompositorische Struktur absichtsvoll vor, die Ausformulierung hingegen ergibt sich aus der Verbindung von bewusst gesteuerten Elementen mit spontan improvisierten und mit solchen, die sich eigendynamisch zu organisieren scheinen, als hätte sie ihre Hand zuweilen von einem anarchischen Impuls leiten lassen.
Levi spricht mehrere Sprachen in Wort und im Bild. Geboren wurde sie in Istanbul, hörte dort Ladino, Französisch, Türkisch. Seit ihrem vierten Lebensjahr lebt sie in der deutschsprachigen Schweiz. So ist ihre Kunst in mehreren Kulturen verwurzelt, was auch ihr Name bezeugt.


aus dem Katalog:
Renée Levi. Kill me afterwards
Verlag für moderne Kunst Nürnberg
Museum Folkwang Essen
2003