Texte zu Renée Levi



Orientierung

von Catherine Perret

Renée Levi ist bekannt für ihre Arbeiten im öffentlichen Raum. Doch es wäre korrekter zu sagen, dass sie am öffentlichen Raum selbst arbeitet. An einer Verwandlung des öffentlichen Raumes, der im Begriff ist, sich vom physisch erfahrbaren Raum zu lösen. Sie verleugnet diese Tatsache nicht, sondern nimmt sie als Ausgangspunkt: Ihre plastischen Eingriffe schreiben sich physisch in die öffentlichen Gebäude (Schulen, Wohnsiedlungen, Banken, Krankenhäuser, Parlamentsgebäude) ein und lösen sich so von ihrem Ursprungszustand, ihrem in situ. Renée Levis Arbeiten zeugen von einer Epoche, in der niemand mehr die Identität von Raum oder Ort postulieren kann. Es gibt keinen realen Ort mehr, denn die physischen Räume werden durch einen virtuellen Kontext gestaltet und bestimmt. Der Ort wird zur Leinwand. Wo auch immer sich ein Objekt auf der Erdoberfläche befindet, es definiert sich weniger über das "Wer bin ich?" als über das "Wo bin ich? Auf welchem Kontrollbildschirm? In welchem Winkel des weltweiten Hypertextes?" Eine Frage, die sich alsbald umwandelt in ein "Wo aber bin ich, dessen Körper&Mac226;hier’ ist?" "Was ist diese&Mac226;hier’ überhaupt?" Renée Levi arbeitet im Zentrum dieser Besetzung des realen Körpers durch den virtuellen Text, mitten in der Desorientierung, die diese Besetzung mit sich bringt. Im Gegensatz zu den Künstlern des in situ, für die der Raum eine feststehende Situation ist, betrachtet Renée Levi den Raum als heimlich aktives Material, das durch die wachsende Kluft zwischen den eingefügten (implantierten) Körpern und der Erwartung der Blicke bearbeitet wird. Der Raum ist also gleichsam eine historische Größe, die Levi durch ihre Kunst angreift, um verschiedene Möglichkeiten einer Positionierung, das heißt die Möglichkeiten eines subjektivierten Raumes, in dem ich mich orientieren muss, durchzuspielen. Das Paradoxe an ihrer ebenso luziden wie aggressiven Kunst ist, dass diese Fragestellung sie von der Architektur zur Malerei geführt hat: von der "Installationsmalerei" zur "Bildmalerei". Diese ungewöhnliche Richtung ihrer Entwicklung, die gewissermaßen die "normale" Chronologie gegen den Strich bürstet, wirft viele Fragen auf. Was kann uns die Malerei, die Selbstreflektion der Malerei, die dem Tun der Künstlerin zugrunde liegt, über die heute so problematisch gewordene Auseinandersetzung mit dem Raum, dem Ort und dem Objekt vermitteln?

Isaac 1, Renée et Léon
Dies ist der Titel eines Familienfotos, das Isaac vor langer Zeit aufgenommen und das Renée Levi dann vergrößert und 1996 in Basel ausgestellt hat. Es handelt sich um eine Innenaufnahme, die bei Tageslicht entstanden ist. Die Gardinen sind zugezogen. Im Zentrum der Szene steht der auf einem kleinen Tischchen positionierte Fernseher. Gekrönt wird er von einem Strauß künstlicher Blumen, die von zwei Antennen eingerahmt werden. Auf dem Bildschirm erkennt man eine blonde Sprecherin, die nach Hollywood aussieht. In der Bildschirmspiegelung lassen sich der Schatten des Fotografen und die Fenster auf der anderen Seite des Zimmers erkennen. Auf jeder Seite des Apparates stützen sich Renée und Léon – hier noch Kinder – mit den Ellenbogen auf und nehmen diesen Stellvertreter des Kamins beziehungsweise des Herdes würdevoll in ihre Mitte. Zwischen ihnen thront – gleich einer Königin – das Bild der Sprecherin, während neben ihr geisterhaft und winzig die Silhouette des Vaters und Fotografen zu erahnen ist. Um den Fernseher herum posieren die erstarrten Körper der beiden Kinder (links das Mädchen, rechts der Junge) in der "Habachtstellung". Eine unüberwindbare Distanz trennt sie. Sie haben auf der Höhe des Bildes zu sein, es selbst zu sein. Das ist das Schicksal der Familien, die sich vor der "Flimmerkiste" versammeln. Thomas Bernhard beschrieb das Phänomen schon in Bezug auf die Fotografie in seinem Roman Auslöschung. "Nimmt man dem Menschen heute die Fotografie, reißt man sie ihm von den Wänden herunter, hatte ich zu Gambetti gesagt, und vernichtet sie, ein für allemal, nimmt man ihm heute mehr oder weniger alles. So kann folgerichtig gesagt werden, dass die Menschheit an nichts mehr hängt, sich an nichts mehr anklammert und schließlich auch von nichts mehr abhängt als von der Fotografie. Die Fotografie ist ihre Rettung…" Der Fernseher hat jedoch gegenüber der Fotografie das symbolische Privileg, dass er, wie Renée Lévi mit diesem Bild zeigt, als ein Spiegel wirkt, der den Vater so zu reflektieren vermag, dass er als Schatten der Sprecherin erscheint. An diesem neuen Herd im Hause, repräsentiert durch den Fernsehapparat, ist das ausgestrahlte (und nicht das projizierte) Bild das Maß aller Dinge. Das Fernsehbild tritt auf als eine entfernte Vision, weit entfernt vom Projektor Auge. Der neue Herd ist menschenleer, ist es immer gewesen, doch niemand kann sich ihm entziehen. Weder die Abwesenheit noch die Anwesenheit des Menschen manifestiert sich hier. Es ist die absolute Präsenz, die Direktheit vorgaukelt. Dieser vorgegaukelten Direktheit entspricht die Vorstellung vom aufgerichteten oder vielmehr abgerichteten Menschen. Gehorsam. Entsubjektiviert. Orientierungslos. Denn der Mensch ist abgeschnitten von der einzigen wirklichen Art des Andersseins: vom Körper, von der Stimme des anderen, vom Nächsten, der zu mir als Person in Relation steht. Mit ihrem Werk setzt Renée Levi der Erkenntnis aus diesem Foto eine eigenwillige Untersuchung entgegen: die Erforschung des Raumes, der sich als Beziehung definiert. Die Malerei ist für sie in erster Linie die Benennung dieser Beziehung.

Die Falle
Renée Levi bemalt Wände. Sowohl die Innenwände der Institutionen, die sie einladen, als auch Außenwände und Fassaden von Gebäuden – und in diesem Fall kann die Malerei auch als blühender Vorhang an den Fenstern erscheinen. Aber ebenso Wände, die völlig losgelöst sind vom Kontext eines Gebäudes und die sie einfach inmitten des Ausstellungsraumes installieren lässt. Diese über und über mit Graffitis versehenen Wände – nach einer Technik, auf die ich später zu sprechen komme – bieten in erster Linie Gelegenheit zu einer Schwindel erregenden Erfahrung: Letztlich ist es immer der andere, der den Betrachter in die Enge treibt, ihn dort stehen lässt, mit dem Rücken zur Wand. Denn sich einer Wand zu nähern, noch dazu einer Wand, die durch die Markierungen auf ihrer Oberfläche überrepräsentiert ist, bedeutet, sich in "das" Feld zu begeben. Es ist die Erfahrung der Schwelle, an der "ich" von der Rolle des Beobachters in die Rolle des Teilnehmenden gleite. Von der Rolle des Betrachters, der die wahrzunehmende ausgebreitete Fläche untersucht, zu der Person, die als "Teil" dieser Wahrnehmung sich von der Wand abhebt und ihrerseits zum dargestellten Objekt wird. Natürlich wird der Moment des Hinübergleitens von der aktiven Rolle des Betrachters in die passive nicht an einem bestimmten Punkt festgemacht. Es gibt nur dieses hinterhältige Bewusstsein, dass man nicht "seinen" Platz "vor" der Wand finden wird, und daraus entsteht das Bedürfnis, diese Grenze körperlich spüren zu wollen, indem man den Standort wechselt und eine neue Ortung versucht. Der Betrachter beginnt also, die Schwelle zu suchen, um den Rollenwechsel selbst steuern zu können, aber die Schwelle entgleitet ihm: Dieses Gespaltensein wird ihm von außen auferlegt. Er wird lernen müssen, dass der aktive Beobachter in ihm Gefangener des passiven Statisten ist, des Statisten im Theater des anderen, und dass er – beispielsweise die plastischen Eigenschaften dieser Wand – nur mit Hilfe der "Rahmung" durch den Blick eines anderen auf diese Wand wahrnehmen kann. Der wahrnehmende Körper des einen lehnt sich an den Körper (den gleichen und doch einen anderen) aus der Sicht des anderen.
Die Wände von Renée Levi liefern den Betrachter auf diese Weise einer so genannten "Bildstruktur" der Erfahrung aus, die durch die Moderne historisch konstruiert wird. Angesichts der Wand wird der Blick in die Objektivität gezwungen und sitzt in der Falle. Wie auch die Vergrößerung des Fotos von Isaac und die Veranschaulichung durch den Umkehreffekt, der das Familienbild in den Hintergrund drängt, unterstreichen, konnten die modernen Wahrnehmungstechniken das Bild auf diese Weise gewissermaßen seines Rahmens berauben und sein Ordnungssystem enthüllen (vgl. Velazquez’ Las Meninas: Der Spiegel der Hofdamen bzw. des Fernsehers, in dem sich der Vater, der König, der Kameramann spiegelt), freilich… Aber der Strukturapparat (die Wand) kann sich diesem Prinzip ebenfalls nicht entziehen. Mit dem Unterschied – und hierin besteht unter anderem der theoretische Hintergrund von Renée Levis Werk – dass die Wand als Orientierungsprinzip nicht mehr funktioniert. Im wörtlichen wie im übertragenden Sinne lässt diese Bildstruktur den Betrachter seinen Standort wechseln, lässt ihn umherirren und treibt ihn in den Wahnsinn. Die Wände von Renée Levi sagen in erster Linie Folgendes aus: Wir sind in einer Welt, in der die Strukturen zwar bestehen bleiben, aber sie befinden sich in einem Zustand des Deliriums (und treiben ins Delirium). In diesem Sinne beschloss Renée Levi kürzlich ihren Vortrag während einer Konferenz mit folgenden Worten, folgender Forderung an sich selbst: "Ein gutes Bild zeichnet sich durch seine Klarheit aus – klar in der Form, klar in der Farbe, klar im Raum."

Geschwindigkeiten
Würden sie nur diese "Bildstruktur", die sich im Zustand des Deliriums befindet, offenbaren, so wären die Wände von Renée Levi kafkaeske Monumente. Eingepfercht in Banken und öffentlichen Institutionen oder auch in eigentlichen Schutzräumen eingeschlossen, bewahren sie sich jedoch den Status des "Schlosses" wie eine Drohung, die niemals vollständig gebannt werden kann. Aber diese Mauern stehen in Flammen. Die fluoreszierenden Graffitis, die sie bedecken, strahlen weit über die Oberfläche hinaus, beleuchten den gesamten Raum um sie herum und signalisieren, dass das "Schloss" brennt. Zerstreuung der unverständlichen Anordnungen, Einstürzen der sich windenden Räume. Klarheit! Aber woher kommt diese Klarheit? Wie immer: von der Quelle der Unterdrückung selbst, das heißt von der Zeitverschiebung zwischen dem rahmenden Sehen und dem Körper, der wahrnimmt. Die Malerei spielt mit der Bildstruktur der Erfahrung. Die Kunst besteht hier darin, den Betrachter die Verspätung der körperlichen Wahrnehmung gegenüber dem Sehen spüren zu lassen. Ihm den zeitlichen Widerspruchs bewusst zu machen, der bewirkt, dass der Blick zumindest eine Wiederkehr vermutet und ihn dadurch soweit zu bringen, sich Zeit für die Verspätung zu nehmen. Die Malereien von Renée Levi spielen mit einer permanenten Unausgewogenheit von Geschwindigkeiten. Sie schlagen einen unregelmäßigen Puls, der ununterbrochen vom Aufwallen zum kaum Wahrnehmbaren wechselt. Entfesselter Rhythmus der Geste, des fluoreszierenden Materials, des potentiell unbegrenzten Formats und gleichzeitig das kaum merkliche Legato der Gelenke, der Schweißnähte, der Rahmen, die die Fläche, die "Schnitte" der Graffitis strukturieren. Die "verrückte", fast frenetische Konzentration, die die Bewegung der Hand mit der Spraydose verlangt – eine Bewegung, die nicht "gerettet" werden kann, sollte ein Fehler geschehen – wird je nach Beschaffenheit der Oberfläche dekliniert. Dies wurde zuvor zerstückelt, durchdacht und minuziös angepasst. Der Kontrapunkt aus Zügellosigkeit und Kalkül der Latenzen ruft die einzigartige, gleichzeitig keuchende und unterdrückte Atmung dieser Arbeit hervor, die das Gleichgewicht der Mauer stört und dem Betrachter die unmögliche Zeitlichkeit eines "zu früh" auferlegt, das immer ein "zu spät" sein wird. In diesem Moment wird der Betrachter durch den so provozierten Einbruch des Bewusstseins in die Position des "hier" versetzt. Aber nicht das festgesetzte, übereinstimmende "hier", sondern jenes, das durch den Rhythmus der Malerei geprägt wird, das den Spieß umdreht, die Verspätung in Rückprall verwandelt, in Betrachtung.


Ein Skandal
Die Malerei erfordert Zeit, aber gleichzeitig gibt sie einem auch Zeit zurück, und im vorliegenden Fall ist diese geschenkte Zeit nichts Geringeres als die Zeit der Umkehrung der Struktur gegen sich selbst. Anders gesagt der Übergang von der erratischen Suche nach dem richtigen Standpunkt zur Auto-Orientierung des Betrachters durch seine sinnliche Wahrnehmung. Diese Lektion der Malerei ist von ähnlich großer Wichtigkeit wie das Vergessen dem sie anheim gefallen zu sein scheint. Aber diese Lektion verwandelt sich auch in eine Lektion für die Malerei. Vielleicht ist dies der Punkt, wo die Malerin in Renée Levi sich an die Architektin erinnert. Denn ihre Malerei selbst wird nicht wirklich wahrnehmbar, da die Silhouettenfiguren, die sich hier blind bewegen, bald selber zum Betrachter werden und ihrerseits die Macht der Projektion in Gang setzen. Oder – wie im Falle der Kunstinstitutionen, wo Levis Arbeiten installiert werden – wenn andere Werke sich hier, wie Reisende, die in den Landschaften von Caspar David Friedrich wohnen, auf das Bild projektieren. Wenn also ihre Wand-Gemälde dem Blick die Chance eines "hic" geben, liegt das einerseits daran, dass sie dem Körper die Unordnung einer ungewissen Bestimmung vorschreiben (die Suche nach einem Platz, der nicht existiert), andererseits lassen die Wand-Gemälde die Möglichkeit eines "nunc" platzen (zu Gunsten des Unzeitgemässen), und schließlich werden sie neu projektiert durch denjenigen, der hier, während er vor der Mauer steht, auch agiert, Beziehungen, Abbildungen entstehen lässt. Die Beschaffenheit des Raumes, der durch das Kunstwerk neu definiert wird, hängt von seiner sozialen Funktion ab. Renée Levi, die für die Installation ihrer Wände Banken und Rathäuser den Museen vorzieht, ist das durchaus bewusst. Sie zieht Orte mit vielfachen Projektionsmöglichkeiten solchen Orten vor, in denen eine symbolische Aufwertung stattfindet. Für den Großratssaal in Luzern hat sie eine eindrucksvolle Bildinstallation geschaffen. Das übliche Kruzifix über den Köpfen der Abgeordneten hat sie durch ein monochromes weißes Rechteck ersetzt, das aus einer Mauer mit fluoreszierenden Graffitis in hellem Gelb hervordringt. Natürlich hat sie damit einen Skandal provoziert. Denn der Betrachter, der das Innere dieses neoklassizistischen Gebäudes betritt und die Marmortreppen bis zu der Etage hinaufgeht, in der das Parlament thront, der weitergeht bis zu jenem politisch eminent wichtigen Ort der helvetischen Demokratie, kann die Aneinanderreihung der Köpfe (der Abgeordneten) auf dem weißen Bildschirm nicht übersehen. Er kann nicht die grafischen Graffitis übersehen, die eher Buchstaben als Zeichnungen ähneln und um die Köpfe der Abgeordneten rauschen wie das Gesetz, dessen Murmeln das Bewusstsein des guten (und christlichen) Bürgers nicht mehr erreicht. Und der Betrachter kann auch nicht die Ironie dieser Inszenierung übersehen, die mindestens ebenso sehr auf den politischen wie auf den religiösen Mythos zielt. Figurativ bis zur abstrakten Nüchternheit wird das Kunstwerk hier zum Theater, das von der doppeldeutigen Ironie lebt.

Das Gemälde als Kamera
Das Parlament im Kanton Luzern badet in einer abstrusen Mischung aus kantischer Religiosität (das Amphitheater, die neoklassizistischen Balustraden, die einheitlich grauen Wände) und technologischem Pragmatismus (Mini-Mikrophone, Pulte aus Mahagoni, EDV-Anschlüsse und Möglichkeiten der Simultanübersetzung). Es ist ein unmöglicher Ort, der demonstriert, wie es sich mit dem Raum als aktivem Material verhält, historisch zerrissen zwischen dem traditionellen Erwartungshorizont und den Erfordernissen der Kontrollgesellschaft. Diese aktive Zerrissenheit wäre nicht weniger abstrakt geblieben und nicht subjektivierbar, nicht wahrnehmbar, nicht denkbar, wenn die bildliche Intervention von Renée Levi sie nicht thematisiert und von der abstrusen Mischung in eine explosive Mischung verwandelt hätte. Denn alsbald ist das klar definierte "hier" zum Projektionsraum geworden, zum Vektor der Identifikation, der Beziehungen. Unter dieser Voraussetzung – und zwar ausschließlich unter dieser Voraussetzung – können die Subjekte sich im Raum wiedererkennen, wahrnehmen was geschieht und zur Selbstwahrnehmung gelangen. In diesem Fall beinhaltet dies das Gefühl, dass das Parlament tatsächlich, (und zwar materiell und symbolisch, und nicht etwa im Gegenteil, wie der moderne Trend zum Immateriellen vorgibt) den politischen Raum einnimmt, der ihm zukommt. Der ganze Beitrag der Malerei bestünde also in einer Vermittlerrolle, die zunächst die Pro-Jektion und anschließend die Wahr-Nehmung unter-stützt und den Sinneseindruck auf diese Weise ermöglicht. Es geht also weniger darum zu wissen, ob die Malerei ein Medium "an sich" darstellt, als darum, sie als Verfahren zu werten, das sich permanent neu definieren muss, damit durch seine Hilfe die potentielle Aktivität des Raum-Materials zur realen Virulenz wird, die das Sehen zwingt, sich die Zeit zu nehmen, sich im Betrachten zu reflektieren. Der Versuch wird zunächst an der Vorstellung abprallen, dann entsteht der materielle Eindruck, dann findet eine Substantialisierung des "hier" und des Körpers statt. Im Jahr 2000 hat Renée Levi ein Video produziert, das eine plastische Antwort auf diese Frage gibt. "Das Video wurde in einem großen Baumarkt gedreht. Ich halte die Videokamera mit ausgestrecktem Arm und richte sie auf das Gesicht des Kindes, das ich vor mir hertrage. Wir bewegen uns in einer Symbiose durch den Raum, ich als die Kamerafrau, die Kamera und das Kind. Das Kind wird von visuellen und akustischen Eindrücken überschwemmt und reagiert unmittelbar auf diese Einflüsse. Das Gesicht agiert als doppelter Datenträger: einerseits auf einer mental-intuitiven Ebene, indem der Ausdruck des Gesichts die Sinneseindrücke des Kindes wiedergibt, andererseits auf formaler Ebene, indem die Umgebung sich auf dem Gesicht widerspiegelt." Um diese Vermittlerrolle übernehmen zu können, muss die Malerei dem reflektierenden und als Spiegel dienenden Gesicht des Kindes ähnlich werden und einem paradoxen Verfahren unterliegen, das zugleich aktiv und passiv ist und das für Renée Levi zur Methode geworden ist.

Paläolithikum
Endlich können wir Renée Levi bei der Arbeit zuschauen. Was macht sie? Oder genauer gesagt: Welche Anordnung von Aktionen hat sie ins Leben gerufen, um der Realisierung selbst als Rahmen zu dienen? Wie sie selbst bei der Präsentation dieses Videos äußert, fängt sie an, indem sie eine Maschine bedient. Sie stellt sich in den Dienst der Maschine, die in ihr und ohne sie arbeitet: der Antrieb. Diese antreibende Maschine wird hier in der Geste des Sprühens verkörpert, reine Entladung des "visuellen Triebs", der im blitzenden Leuchten des fluoreszierenden Materials explodiert. Pink, Rot, Gelb. Dies sind die Farben der "Wunschmaschinen", deren Funktion hier darin besteht, den vor-definierten Zusammenhang zwischen dem Sehen (in einem Rahmen) und der Wahrnehmung (von etwas) in der Malerei selbst zu zerstören. Alles geht zu schnell, als dass sie die Kontrolle behalten könnte, doch gerade in dieser neu geschaffenen Passivität befreit sich der Körper von seiner Darstellung und von der Darstellung, die als Fundament allen Darstellungen zu Grunde liegt: die der Zeitenfolge. Der Körper, der die Graffitis herstellt, ist ein Körper, der verrückt geworden ist, befreit von der Spaltung zwischen dem Mentalen und dem Körperlichen, ausgestrahlt von einem innewohnenden Gedächtnis, dem Gedächtnis der Hand, die unbeteiligt schreibt, zeichnet und malt: die Hand des Jägers aus dem Paläolithikum. Das In-Gang-Setzen der auslösenden "Maschine" erfordert eine absolute Konzentration der Energie, befreit das Subjekt von seinem eigenen Körper (mit seinen ureigensten und wiedererkennbaren Eigenschaften) und entfesselt die Gedächtnisfunktion der Geste, dieses sedimentäre Grundwissen in der Geste, das älter ist als unser Bewusstsein selbst. Es kommt zu einer Reaktivierung der uralten Technologie, die Auge und Hand in der Produktion eines für das Objekt bedeutungsvollen Bildes lenkt. Der Strich, der auf diese Weise entsteht, hat den Status einer Selbst-Erkennung, des Verwischens einer Fußspur im Sand, die einfach nur ausdrückt: "Ich, hier". Denn er umschreibt einen Ort, von dem er sich alsbald entfernt, um diesen Vorgang zu wiederholen, bis zu dem Moment, da die Hand aus Mangel an Energie zurückfällt und das Auge sich schließt. Diese Geste legt eine minimale vorsymbolische Technik an den Tag, die ein Territorium definiert, einen lebenden menschlichen Raum. In diesem Sinne ist sie das Gegenteil einer (zielgerichteten) Bewegung, eines (Selbst-) Ausdrucks, einer Signatur. Es handelt sich um eine subjektive und überindividuelle Projektion, die vor sich nach und nach eine Fläche spannt. Diese Fläche als Realisierung der Energie ist gesättigt und gewissermaßen gefüllt: Angefüllt nicht nur mit Zeichen, sondern in einem substantielleren Sinne, indem sie nach und nach den Raum ausfüllt, den sie einnimmt. Die abbildende Tätigkeit kann demnach als seltsames Oxymoron zusammengefasst werden: Die Produktion eines substantiellen, amniotischen Bildes. Zunächst durch die Abwesenheit des Objekts und im weiteren Sinne durch die Befreiung des Gedächtnisses. Dieses Bild beschränkt sich auf wenige Aussagen: Es ist weder Spiegel noch Fetisch. Man kann weder sich selbst noch sonst irgendetwas darin sehen, sondern mit seiner Hilfe Gestalt annehmen und die Sinneseindrücke wiederbeleben. Ohne dieses Bild wissen wir jedoch nicht, wo wir sind, und bleiben Gefangene der ewigen Höhle, die uns heute als flüchtiges Netz umgibt.


Aus dem Frazösischen von Dorle Ellmers



aus dem Katalog:
Renée Levi. Kill me afterwards
Verlag für moderne Kunst Nürnberg
Museum Folkwang Essen
2003