Texte zu Renée Levi



Zeichen der Zeit
Zu den Zeichnungen von Renée Levi


von Ursula Sinnreich

Spuren von Bewegungen. Numerische Reihungen. Punktuelle Verdichtungen. Blockhafte Setzungen. Verschlungene Geflechte. Farbnebelbahnen. Filigrane Gewächse, korallenartig. Kurvaturen, aufsteigend in freiem Fall. Die Ordnungen, die Renée Levi in ihren Zeichnungen entwirft, sind Ordnungen auf Widerruf. Dabei verspannt sich die Geste, die sie hervorgebracht hat, mit der Geometrie der Fläche, auf der sie sichtbar werden, zu Signalen der Energie, die in einer eigenen Raum- und Zeitordnung zuhause sind. Diese Zeichnungen sind nicht einfach Studien oder Vorarbeiten für das malerische Werk, sondern erarbeiten eine Matrix, aus der heraus das einzelne Zeichen zur Form sich entfalten kann.

Magenta, Orangerot, Gelbgrün, transparent gewordenes Braun. Auf Weiß, vor Weiß, mit Weiß: Die Skala der Farbtöne, in denen Levis Zeichen zur Sprache gelangen, erscheint bis aufs äußerste gespannt. Das Feld, in das sie gesetzt werden, dagegen unbestimmt, frei, offen. Nicht leeres Blatt, sondern Lichthof, entmaterialisiert von dem Moment an, an dem die Farbe es berührte. Eine Berührung, die ein Wechselspiel in Gang setzt, das mal als Widerspiel, mal als Zusammenspiel sich inszeniert. Nie aber nur graphische Figur auf blankem Grund. Eher Funkenschlag aus der Begegnung zweier unterschiedlicher Aggregatzustände von Materie. Intensität der Wirkung, die blitzartig aufscheint und die Wahrnehmung in die Dimension der Plötzlichkeit katapultiert. Herausforderungen. Und das alles einfach.

Gesprüht, getupft, gezeichnet, mit dem Pinsel gezogen. Jedes Zeichen eine Rhythmisierung des Feldes. Dynamische Figuration, die – auch wenn sie verschlungene Wege geht – nie zur Arabeske wird, sondern Punkte der Konzentration markiert. Aus der Fülle heraus, in die Offenheit hinein. Spannung in ihrem höchsten Moment und darin dem Pol der Ruhe zum Verwechseln ähnlich. Das Feld, eine Zone der Kraft, die nach allen Seiten strahlt. Auch über die Kanten des Blattes hinaus. Entgrenzung als Gegengewicht zur Konzentration. Und der Blick ist befreit von der Fixierung des Ortes. Dennoch bildet das Blatt nicht bloß einen Ausschnitt aus dem großen Unendlichen. Vielmehr spürbar ist die bildgewordene Verdichtung des Moments. Ausufernd nur die Imagination.

Keine Titel, Namen, Daten. Geschichtslose Blätter, die dennoch Geschichten transportieren. Wie Lichtreflexe, die auf unbekanntes Terrain ausstrahlen. Poesie ohne Worte. Umkreisen von Ursprung, Zeichen und Bedeutung. Bild eben. Zur Sprache kommen, statt erzählen. In den Raum stellen. Reflektionen der Gegenwart. Das Unmittelbare ins Werk setzen und doch mehr sein als bloßer Affekt. Stimmigkeit statt Stimmung. Für Zufall scheint kein Platz. Stattdessen der kontrollierte Fluss gestaltbildender Intuition, das Ergreifen des Moments. Die Reduktion auf das Wesentliche ebnet den Weg für Beobachtung und Selbstbeobachtung. Disziplin und Freiheit, untrennbar miteinander verknüpft. An Grenzen stoßen, mit Grenzen spielen, grenzenlos. Wissen vergessen, Erfahrung wagen – Wirklichkeit werden lassen.

Experimentieren, fordern, fragen, suchen. Material erproben, denkend und handelnd. Das Einfache wagen. Der Leere nicht ausweichen. Setzen und Verwerfen. Kill me afterwards. Ein Später, das es eigentlich nicht gibt. Diese Zeichen bleiben stets gegenwärtig, selbst dann, wenn ihre grafische Erscheinung verblasst. Kraftlinien, die Raum greifen, peripher, imaginär, fundamental. Losgelöst von der Schwere der Materie. So, wie die großen Wandarbeiten. Phänomene und Kontexte. Einübungen in die Dimensionen der Erscheinung. Erprobt wird die Wirklichkeit der Wirkung, jenseits der Spekulation. Dafür aber der Mut zum Risiko. Der Wille aufs Ganze zu gehen. Denn nur in der Verschränkung von Feld und Signatur, Entgrenzung und Konzentration, von Stabilität und Labilität kann das Ganze als Zeichen der Zeit Gestalt annehmen.

Das Gleichmaß des Fließens, freie Rhythmen, Punkte des Anhalts, Repetitionen. Eine Gegenwart, in der Gewesenes sich verdichtet um das Werdende auf den Weg zu bringen. Die Bewegung der Zeichen, Entwurf und Vorwurf zugleich. Zukunft braucht Herkunft. Und ohne Jetzt kein Bald. Wann immer Fließen und Halten sich durchdringen, entstehen Augenblicke der Gleichzeitigkeit. Auf dem Terrain unmittelbarer Gegenwart kreuzt Vergangenes Zukünftiges, verschwistert sich Projektion mit Rekonstruktion. Das Feld als ein energetischer Raum, in dem das Zeichen seine Zeitlichkeit offenbart. Jetzt so, bald anders. Permanente Verwandlung wird zur Möglichkeit und bleibt dennoch bestimmt. Denn Spannung hält die Bewegung im Moment, entäußert das Flüchtige an das Konstante.

Offen den Blicken, der Sprache abgewandt, balancieren die Zeichnungen von Renée Levi am Rande der Fassbarkeit. Als Manifestationen einer Artikulationsweise, deren Ausdruckswillen sich programmatisch in den Farbnebelbahnen formuliert, zeigen sich Streiflichter von Bedeutung – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der große Sinn, eine Chimäre, dem das Nachdenken über die Ordnung der Zeichen entgegengestellt wird. Die künstlerische Geste treibt dabei ein doppeltes Interesse: auf der einen Seite der Wunsch, die das Zeichengefüge prägenden Regeln oder Prinzipien zu entdecken. Auf der anderen Seite: Impulse zu setzen und zu erfahren, in denen die Ordnung der Zeichen als lebendiger Zusammenhang erlebbar wird. Zeichnen als das Setzen von Zeichen, aus deren Ordnung die Hierarchien von Bedeutung und Form zu verschwinden im Begriff sind.

Jenseits der Hierarchie, wenn Ordnung sich öffnet, gibt sich die Entgrenzung als Möglichkeiten zu erkennen. Spiele der Phantasie. Bewegungen des Denkens. Wahrnehmung des Anderen, veränderte Wahrnehmung. Die Leerstellen, die zwischen den Zeichen auftauchen, werden erfahrbar als Orte der Freiheit, Experimentierfelder für das Auge ebenso wie für den Gedanken. Recherche einer Logik, die nicht auf die Gesetze von Ursache und Wirkung baut, sondern die Paradoxien der Erfahrung zu integrieren versucht. Felder als Ordnungen eigener Art, in denen Zeichen nicht in erster Linie für etwas stehen oder von etwas sprechen, sondern sich als das Andere des Offenen definieren. Kein Schluss möglich. Dafür aber Bewegung, jeder Zeit.




aus dem Katalog:
Renée Levi. Kill me afterwards
Verlag für moderne Kunst Nürnberg
Museum Folkwang Essen
2003