Reinhard Storz


Hommage an
Robert Watts (1923 - 1988)
zum Bild "Tree working, artist resting" , 1983

Was man im Bild nicht sieht, sich aber leicht vorstellen kann: die Filzstifte auf dem Papier sind mit Fäden an den Ästen eines Baumes aufgehängt, - durch die Bewegung des Windes in den Baumästen hinterlassen die Stifte Spuren auf dem Papier. Der Künstler kann sich daneben in seine Träume versenken, denn das Trio Wind-Baum-Stift übernimmt die Arbeit des Zeichnens.
Es gehört zur technischen Definition von Medien, dass sie Botschaften übertragen und speichern. Das ist hier gegeben: Die Vorrichtung der 'vom Baum hängenden Stifte auf Papier' zeichnet als Aufnahme- und Ausgabe-Medium offensichtlich die Spuren von etwas auf. Aber wovon? Vom Wind, der über die Äste streicht, oder von den Ästen, welche durch Windenergie in Bewegung gesetzt werden?
Haben Bäume etwas zu sagen?
Vor 3 Wochen (am 29.9.03) titelte die Boulevard-Zeitung Blick: "57 Mio. Italiener verfluchen einen Schweizer Baum". Da hatte sich im Kanton Schwyz nachts zuvor ein Baum auf eine Starkstrom-Leitung gestürzt und damit in Italien ein grosses Strom-Blackout ausgelöst. Nachts, aus dem Flugzeug betrachtet, waren die ausgehenden Lichter in Italien natürlich eine mächtigere Baum-Botschaft, als die bunten Kringeln von Watt's Baum auf unserem Bild.
Wer zeichnet hier? Mir fällt der Fotopionier Henry Fox Talbot ein, der in einem frühen Traktat 1844 die Fotografie den 'Zeichenstift der Natur' nannte, 'The Pencil of Nature': in der Fotografie zeichnet die Natur ihr eigenes Bild. Ist hier, in der Nachfolge Pollocks, etwas ähnliches gegeben? Ich denke an die Chaostheorie mit ihrem poetisch-physikalischen Bild vom Schmetterling, dessen leichter Flügelschlag in China Stunden und Tage später in den USA nach den Gesetzen der Chaostheorie einen Orkan auslösen kann, oder auch nur ein kleines Lüftchen, wie es hier über das Baum-Medium seine Spuren hinterlässt. (Etwa zu selben Zeit, als Watts' Bild entstand, arbeiteten Feigenbaum und Mandelbrot an ihrem Beitrag zur Chaos-Theorie.)
Nicht zufällig erinnert Watts analoge LowTech-Vorrichtung an wissenschaftliche Geräte: bevor er Mitte der 50er Jahre Künstler wurde, war er Ingenieur gewesen. So wie Seismographen die mächtige Energie der Erdplatten in massvolle kulturelle Zeichen übersetzen, könnte das Ding hier vielleicht ein Aufzeichnungsgerät für Bäume sein (ein Xylograph), für den Wind (ein Äolograph) oder für Schmetterlinge, ein Psychograph. Tatsächlich gab es für Schmetterling und Seele in Altgriechisch das selbe Wort: psyché.
Wo Wörter und Zeichen vieldeutig werden, sind wir wieder näher beim Flügelschlagen der Kunst, welche nicht linear-decodierbare Informationen herstellt, sondern vielschichtige Bedeutungen.
Und der rastende Künstler? Nur 1 Interpretationsansatz: Die Genieästhetik, die bis heute nachwirkt, sah im Künstler selbst das Medium eines transzendentalen Weltgeistes. Durch ihn setzt sich das Wahre aktiv ins Werk, ihm fallen sinnhafte Bilder ein (woher?), er wird von Ideen heimgesucht. Dieses eine Prozent Inspiration ist es, was den Künstler ausmacht, vom Rest, der Arbeit, soll man besser schweigen. Watts jedenfalls überlässt die 99% Transpiration getrost dem 'Working Tree'.

Kurz-Vortrag, gehalten an der HGK Basel am 20.10.03