Georg Christoph Tholen

Der Ort des Raums – Erkundigungen zum 'offenen' und 'geschlossenen' Raum
Vortragsversion zu HyperKult IX - Augmented Space. Reale, virtuelle und Symbolische Räume. (20. - 22.7. 2000, Lüneburg, FB Kulturinformatik)


Bereits der Titel meines Vortrages unterstellt, es gäbe einen Ort, also etwas Räumliches, der dem Raum, so wie wir ihn in seiner Vorgegebenheit zu denken gewohnt sind, vorausgeht. Und in der Tat ist in den letzten Jahren aufgrund der Irritation der sog. 'Cybermoderne&' von konfligierenden Räumen die Rede: unterschieden werden reale, virtuelle und imaginäre Räume. Der Vortrag wird, ausgehend von Kant, die Grundzüge der Kategorie des Raums in Erinnerung rufen, um neue Unterschiede und Differenzen im 'räumlichen' Denken zu markieren. Es wird zu handeln sein von einem offenen Raum, der nicht deckungsgleich ist mit dem uns scheinbar vertrauten Raum, den wir den 'homogenen, lückenlosen' Raum nennen.

Der offene Raum bekundet sich als Einschnitt in den räumlichen Vorstellungen, gleichsam wider Willen: er verweist auf eine Topologie des Bodenlosen und Abgründigen (Heidegger, Derrida, Bahr, Nancy u.a.) die nicht nur für die Sphäre des Ästhetischen thematisch wurde sondern auch für die Spurensicherung in der Wissenschaftsgeschichte. Man spricht hier von einer neuen Sensibilität für die Historizität kultureller Symbolräume und Bedeutungssysteme. Denn diese lassen sich nicht im 'abstrakten' Raum einer linearen Begriffs- und Ideengeschichte thematisieren, sondern verweisen auf Brüche und Einschnitte in der Wissenschaftsentwicklung (Immunologie, Biochemie, Molekularbiologie, Informationsbegriffs; vgl. Hans-Jörg Rheinberger u.a.: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997)

Der 'Raum' hat zur Zeit in der Kulturkritik und Medienanthropologie der Gegenwart (Baudrillard, Postman, Flusser, de Kerckhove, Virilio, Kamper, Weibel u.v.a.) Konjunktur: es kursiert wohl kaum eine Schrift zu den neuen Medien, die nicht von ihm handelt, genauer: von seinem Verlust oder gar seiner 'Vernichtung'. Geschuldet der 'weltweiten Vernetzung der Teletechnologien' - so etwa gleichlautend Paul Virilio und Peter Weibel schon 1990 in dem vielzitierten Band Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation und Kunst (Hg. P. Weibel/E. Decker 1990) zöge sich der Raum wegen des Siegeszugs der digitalen Weltvernetzung zusammen und verschwände. Verwechselt dieses kulturkritische Schema nicht Kategorie und Erlebnis? Übersieht ihr bipolare Entgegensetzung von Realem und Hyperrealem nicht den Zirkelschluß ihrer eigenen Verlustrhetorik? Meine These lautet: Keine 'Tele-Vision' (Virilio) kann das Reale des Raums 'ablösen' oder 'auflösen'. Denn das Reale entzieht sich per definitionem den Bildern, die wir uns von ihm machen. Es bleibt unterschieden von seinem Platz, und alle Bilder oder Vorstellungen des Raums sind stets verschiebbare Aus-Schnitte, d.h.: unvollständige Rahmen-Setzungen.


1. Raum-Vorstellungen

Bereits der Titel meines Vortrages unterstellt ebenso wie der Titel der diesjährigen HyperKult, es gäbe mehrere Räume: reale, imaginäre, symbolische; Räume, die sich überlagern oder vermehren: eine Zunahme oder Vergrößerung des Raums: Augmented Space. Zugleich - und damit möchte ich zu Beginn einen Abstand zum vollmundigen Versprechen des Cyberspace als eines 'ganz anderen' Raums markieren m- unterstellt die tastende Beschreibung von vielfältigen Räumen, es gäbe da Etwas am räumlichen Denken, das sich dem Raum, so wie wir ihn seit Kant in seiner Vorgegebenheit zu denken gewohnt sind, entzieht; mithin dem klassischen, kategorialen Raum-Schema erst einen Platz zuweist – den Raum einräumt oder 'verstattet', wie Heideggers bewusst paradoxale Formel lautet.

Und in der Tat geht es mir hier um Unterschiede von Raum und Räumlichkeit, um Differenzen im räumlichen Denken; um den offenen Raum, der von dem uns scheinbar vertrauten Raum, der von dem leeren, homogenen, lückenlosen, geschlossenen Raum abweicht. Denn übersehen wurde, das der leere Raum in seiner Leere und Indifferenz so leer nicht ist: er ist da, anwesend, voraus-gesetzt, ein omnipräsentes Schema, in dem wir räumliche Vorstellungen, und mögen es immersive Träume sein, ansammeln. Der offene Raum hingegen ist unbesetzbar, zeigt sich nur in Einschnitten und entzieht sich jedwedem Horizont, den er gleichwohl in seiner jeweiligen Beschränktheit eröffnet (mehr dazu am letzten Tag von Stefanie Wenner). Er ist eher atopisch als utopisch. Den Fachleuten (bzw. Kant-Kennern) unter ihnen ist die Fragwürdigkeit oder Grenze der Raum-Zeit-Schematisierung unter dem Titel der Unbegrenztheit, des Erhabenen und des 'sensus communis' der Einbildungskraft, des un-eigentlichen 'Als-ob' bekannt.

Doch sollte, wie wir mit Heidegger und anderen Denkern wie Hans-Dieter Bahr, Jacques Derrida, Jean-Luc Nancy, erfahren können, die Topologie dieses Ab-Ortes oder Ab-Grundes nicht nur in eine bloß regionale Sphäre des Ästhetischen abgeschoben werden. Vielmehr artikuliert sich das a-topische Denken in der Hybridkultur der neuen Medien ebenso wie in der Wissenschaftsgeschichte, die von Überlagerungen wissenschaftlicher Darstellungsweisen und Repräsentationsformen spricht..

Man entdeckt in jüngster Zeit - in aller Vorläufigkeit - den 'offenenRaum' oder genauer: 'prekäre Zwischenräume' : Zum gängigen Raumverständnis kommen also Bestimmungen hinzu, die vorher als überflüssiges Bei-Werk, als äußerlicher Rahmen galten: par-ergonale Zusätze zum Werk selbst bilden nunmehr den Focus der Frage nach der medialen Einrahmung und Entrahmung unserer Welterschließung - gerade auch in den neuesten, digital exponierbaren Körper- und Theater-Performances. Um nur einige wegweisende Untersuchungen aus verschiedenen Wissensbereichen zu nennen:

1)In Dagmar Reicherts 1996 erschienenem Buch ' Räumliches Denken' finden wir Analysen zur Interferenz perspektivischer und moderner Malerei, die mit solchen über projektive und nichteuklidische Geometrie sich überkreuzen. Die Übersetzung realer Architekturfragmente ins Zeichenhafte sind nicht zu loszulösen von der postmodernen Architektur eines B. Tschumi oder P. Eisenmann, in der der eingangs genannte Rand des Sichtbaren zum Prinzip der Demontage räumlich- binärer Hierarchien, zum Spielraum zwischen funktionalen und spielerischen Architekturen wird: ein experimenteller, unausgeloteter Spielraum (Biespiel: Parc de la Villette).

2) Die Virulenz des Raumproblems sieht Herbert Mehrtens, Mathematiker und Wissenschaftshistoriker, in seinem Buch ' Moderne. Sprache. Mathematik von 1997 im Widerstreit zwischen gestalt- und abbildferner und romantisch-gegenmoderner, intuitionistischer Mathematik im Grundlagenstreit um 1900 situiert. Die Mediensemiotik – so Karin Wenz' prämierte Arbeit 'Raumsprache und Sprachräume (Zur Textsemiotik der Raumbeschreibung)'und Ihr Beitrag in dem Band ' Konfigurationen zwischen Kunst und Medien'– untersuchte am Beispiel des Computerspiels Myst , wie sich an der Schnittstelle analoger und digitaler Einbildungskraft ein narrativer Zwischenraum kristallisert, dessen hypermediale Gestaltungsräume darin bestehen, alte narrative Mythen rollenspielend zu re-produzieren und ironisch zu brechen (vgl. ähnlich auch: digitales Sampling und Crossover in der Pop-Musik, wie es D. Diederichsen, R. Grossmann und M. Harenberg beschrieben haben) und

3) zeigen Hans-Jörg Rheinberger u.a. in dem Buch ' Räume des Wissens', dass die noch junge Kulturgeschichte des wissenschaftlichen Wissens die Übereinanderlagerung von Symbolräumen betont, die nicht in dem 'abstrakten Raum' einer linearen Begriffsgeschichte aufgeht, sondern Brüche und Einschnitte in den Wissensfeldern zu gewärtigen hat: das Axiom der Molekularbiologie beispielsweise bedeutet eine Transformation in der Wissenschaft vom Lebendigen, da der Organismus nunmehr als ein differentieller, sich aufschiebender Übersetzungsprozess, als genetische 'Umschrift' des offenen Lesens und Schreibens lesbar wird. 'Der' raum also wird in vereschiedenen Wissensfeldern dekonstruiert. Aber was ist darunter genauer zu verstehen?

Der 'Raum' hat zur Zeit Konjunktur: es kursiert kaum eine kulturkritische Diagnose, die nicht von seinem Verlust spricht. Geschuldet -- so etwa Paul Virilio und Peter Weibel – der (Zitat) 'weltweiten Vernetzung der Teletechnologien' zöge sich der Raum zusammen und verschwände; und mit ihm sogar der Mensch als ohnmächtiger Zeuge dieses apokalyptischen Prozesses. Solche (an Jahrhundertwenden nicht seltene) verzweifelte Vermutungen über den Verlust des Raumes, die sich vor allem, aber nicht nur, in den Spätschriften Virilios, also jenes 'spekulativen Architekten' unserer Medienwelt finden, dem wir gewiss detailreiche Beschreibungen der Raum-Zeit-Beschleunigungen verdanken, haben mich ebenso angeregt wie unbefriedigt gelassen. Gibt es diesen vielfach beschworenen konkreten Nahraum des Menschen als festen Ort überhaupt? Ist er nicht vielmehr einer Perspektive (in jedem Wortsinne) verdankt?

Zugleich aber und im Widerspruch zur Vision der telematischen Ent-Fernung des Raumes wird in einer Vielzahl der den Neuen Medien gewidmeten Prognosen unter dem Zauberwort Cyberspace ein neuer Raum angekündigt, der den einstigen, angeblich unmittelbar gegebenen Raum ablöse und doch wegen seines medial-fiktiven Charakters eigentlich kein wirklicher Raum, sondern raumvernichtende Zeit sei. Aber was ist das: der konkrete, unmittelbare Raum? Oder der abstrakte, virtuelle Raum? Ist der Raum - wie ein Behälter - schlicht 'gegeben', 'vorhanden'?

[Exkurs zur aktuellen Debatte um Künstliche Welten]

Würde statt meiner William Gibson, gleichsam als 'Neuromancier' (1984) hier in diesem Raum sprechen, so hätte er ihn gewiss einen 'Bauhaus-Sarg' (W. Gibson, Cyberspace, München 1988,S.85) genannt, allenfalls tauglich als Startrampe für halluzinatorische Reisen von halluzinierenden Video-Kids, deren Augen und Nerven von Photonen, Elektronen und Neuronen durchströmt sind, und ihn, Gibson, zum Begriff Cyberspace inspirierten. Unter dem noch plakativeren Begriff der Cybermoderne lässt sich viel versammeln, was von neurokulturellen Kurzschlüssen zwischen Gehirn und Kultur bei KI-Propheten wie Marvin Minsky, Hans Moravec und dem McLuhan-Schüler Derrick de Kerckhove reicht. Mit ihm lassen sich bezeichnen die Szenarien und politischen Utopien eines Howard Rheingold und John Perry Barlow. Die Literatur, auch die seriöse, z.B. kultursoziologische, ist angewachsen, ihr Erkenntnisgehalt eher bescheiden: Cyberspace oder 'Künstliche Welten' meint nüchtern: Verknüpfung von Computertechnologie und Telekommunikation (Internet, WWW), diffuser: die Welt elektronischer Daten und Bilder ohne 'konkrete' Gegenständlichkeit, der Ab-Ort, in dem Menschen im und als Datenraum navigieren, oder aber auch, technisch eingeschränkter: die Medientechnik virtueller Systeme, mittels derer wir in computergenerierte 3-D-Bilder eintauchen. Bleiben wir für einen Moment bei der Beschreibung dieser 'Schnittstelle', um uns alsbald von der dieser Apparatur bisweilen naiv oder mythisch zugesprochenen Eigenschaft einer 'ganz anderen Welt' wieder zu entfernen: gewiss gibt es mit den den KI-Forschungslabors entsprungenen VR-Systemen eine veränderte Benutzeroberfläche: nicht mehr nur die alphanumerische Tastatur, und nicht mehr nur die den zeigenden Finger substituierende Maus als Benutzeroberfläche der 2. Generation, sondern ein die gesamte Oberfläche des Körpers einbeziehende Oberfläche von Haut und Maschine, die - vielleicht etwas vorschnell- als Unentscheidbarkeit von Innen und Außen, als angstbezogene wie euphorisierende Metapher für grenzenlose Oberflächen der immateriellen Welt genommen wird. (Oberflächen-Stratageme sind Begriffe einer Heterotopologie von Deleuze und Foucault, die von diesen beiden Autoren etwas komplexer begründet werdem als in mancher zeitgenössischen Literatur zum Cyberspace).

Doch in solcher Metaphorik des kybernetischen Raums ist das Moment einer Abgründigkeit und Nicht-Seßhaftigkeit angesprochen, das als Verhältnis von Technik und Aisthesis zu bedenken sich lohnt und - wie ich skizzieren möchte - die Wiederlektüre einer medienphilosophisch ausgewiesenen Theorie des Raums nahe legt, will man nicht bei der kurzatmigen Rhetorik von 'Natürlich' versus 'Künstlich', 'Simuliert' versus 'Wirklich' stehen bleiben. Es gilt nämlich weiterhin der Satz, nicht nur für das Bauen: 'Wer hoch hinaus will, muss die Fundamente tiefer legen.' (Fritz Seitz). Problematisch ist in den medien'anthropologischen' Modellen der Informationsgesellschaft nicht allein die ungeklärte Bestimmung des als gespenstisch empfundenen Übergangs vom realen zum virtuellen Raum, sondern die unbedachte Verwendung der Kategorien von Raum und Zeit als eines lebensweltlichen oder leibunmittelbaren Bestandes des Menschen, der nun angesichts der Neuen Medien gefährdet sei. Befragen wir also das unreflektierte Schema von Zeit und Raum in diesen Diskursen: Die Botschaft dieser postmodernen Theorien lautet – ich resümiere - : Durch den digitalen Code der Informationstechnologien würde mit dem Raum tendenziell der natürliche Körper des Menschen aufgelöst und 'ersetzt' (ich zitiere): »Die Ersetzung der natürlichen Körper (Träger- und Transportkörper) durch teletechnische Prothesenkörper habe um den Preis der Aufgabe des Körpers eine Beschleunigung der Botschaft erzielt. Das 'Zeichen' hat sich in der elektromagnetischen Schrift (also seit der Stellenwertlogik der Booleschen Schaltalgebra bzw. der entscheidbaren Turingmaschine) von Raum und Körper gelöst und konnte dadurch beginnen, mit elektronischer Geschwindigkeit zu reisen.« (Peter Weibel, Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation und Kunst, S.36) Das Verschwinden des Raums und mit ihm dasjenige des Körpers sei – so auch Virilio, Baudrillard - das heimliche Telos der telematischen Zivilisation. Ähnlich , wenngleich nüchterner, wird die mediale Auflösung von Raum und Körper in der neueren soziologischen Mediengeschichte situiert: nämlich als Abstraktionsleistung vom konkreten interaktiven Handlungsgeschehen, dessen angebliche Transparenz eine kommunikative ›Lebenswelt' noch garantiert habe. (M. Faßler u.a.)

Das unbemerkte Aussagemuster in diesen Diskursen ist eine bipolare, d.h. imaginäre Gegenüberstellung von abstrakt und konkret, wirklich und fiktiv, echt und simuliert. Ihr Dilemma ist das eines jeden imaginären Kurzschlusses: wenn nämlich das Fiktive oder Phantastische das Wirkliche zu ersetzen imstande ist, muss gerade solcher Behauptung gemäß eben solcher wirklichkeitsstiftenden Fiktion wiederum eine eigene Wirklichkeit zugeschrieben werden, die doch andererseits nur der der Fiktion vorhergehenden und ihr opponierenden Wirklichkeit eigen sein soll.

Wenn also, anders gesagt, mediale Botschaften nach einem bereits vorgegebenen Sender-Empfänger-Modell gedacht werden, kann die historische Dazwischenkunft von medial je neuen Schnittstellen von Mensch und Medium kaum anders als abstrakte Trennung der Botschaft vom Körper des Boten missverstanden werden; nämlich als (Zitat) »Sinnbild der zunehmenden Eliminierung der sinnlich-körperlichen (Selbst

Wird so nicht die heimatlose Einbildungskraft in vertraute Raum-Kategorien heimgeholt? Gibt es Spuren eines anderen Raum-Denkens, das offen genug wäre, den unleugbaren Befund der telematischen Veränderungen ernst zu nehmen, ohne diese der Melancholie eines völligen Verlustes des Raumes opfern zu müssen? Verweisen nicht gerade die dekonstruktiven Baustile der jüngsten Zeit ebenso wie die ›gespenstischen' Effekte medialer Simulakren und virtueller Bilder auf eine Räumlichkeit, die als solche definitionsgemäß nicht den ontologischen Status einer beharrlichen Substanz für sich reklamieren kann und will? Gerade die eingangs zitierte Prothetik des »virtuellen Raums«, der den angeblich »realen« nunmehr ersetze, spricht von einer prinzipiellen Verschiebbarkeit einer dehnbaren Räumlichkeit, die aber als gespenstisch-bedrohlicher, als schlechter Schein ausgeräumt werden soll. Es gilt also, im Gegenzug hierzu, wie Derrida betont, die Gespenstigkeit oder offene Un-Heimatlichkeit des Räumlichen zu situieren, der noch die Raumwerdung unseres sog. öffentlichen Raums bzw. des Raums der Öffentlichkeit gewährleistet und nicht ohne Dramatik verändert.(Internet).

Dass die Frage nach dem Raum über seine vermeintliche Vorgegebenheit hinausgehen muss, führt uns – ganz kurz nur, aber den Denkraum erweiternd - zu Kant zurück und zu einer kritischen Lektüre seiner Prämissen: Es gibt, so Kants umwälzende Fragestellung in seiner philosophischen Ästhetik, zwei reine Formen sinnlicher Anschauung die als Erkenntnisquellen unserer Erfahrung vorausgehen, der Erkenntnis von Gegenständen überhaupt zugrunde liegen: Raum und Zeit. Sie liegen als reine, d.h. als frei von Empfindungen und vor ihrer Ehrfahrbarkeit stets schon im Gemüt bereit: ein konstitutiver Rahmen beliebiger räumlicher oder zeitlicher Vorstellungen und empirischer Anschauungen also.

Wie aber ist zunächst nach Kant der Raum und in welchem Sinne gegeben?

Dass der Raum kein empirischer Begriff ist und mithin aus keiner Erfahrung sich ableiten lässt, erhellt, wie Kants Beispiele zeigen, der Charakter unserer gewohnten Raumvorstellung: Jeder räumlichen Vorstellung als einer, die Dinge auseinander und nebeneinander liegend - vorstellt, liegt eben die Vorstellung des Raumes selbst – das 'Nebeneinander' und 'Auseinander' als Schema - zugrunde: (ich zitiere) » Der Raum ist nichts anders, als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d.i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist.« Der Raum ist also keine beliebig variierbare Form, die den Dingen und ihren Relationen eigen sein könnte, sondern eine Vorstellung, die den Anschauungen extensionaler Räumlichkeit vorausgeht: Wir können uns nicht vorstellen, dass kein Raum sei, präzisiert Kant, sehr wohl jedoch ist der leere, aber stets erfüllbare Raum vorstellbar, welcher wie ein Behälter eine Mannigfaltigkeit von – stets teilbaren – Räumen und Raumvorstellungen enthält.

Was gibt aber, was konstituiert die Vorgegebenheit des Raumes, in dem wie in einem Behälter »Vorhandenes allererst begegnen kann«? Ist das unbefragte Schema des einen und einigenden Raumes, vielleicht das Gegebene im Sinne einer Gabe oder eines Geschenks, das die Einbildungskraft von sich gibt, d.h. freigibt? Wenn ja, dann wäre die Einbildungskraft selbst not-wendigerweise die, die apriori den omnipräsenten Zeitraums setzt (Heidegger, Derrida, Bahr)

Das Gegebene der räumlichen Affizierbarkeit zu erkunden, ist das, was nach und mit Kant nun zu denken bleibt. Die Aisthesis oder Einbildungskraft als ›Mittlerin' zwischen den Quellen der Erkenntnis ist ernster zu nehmen als früher, nicht nur philosophiehistorisch gesehen. Ihre mediale Eigenart geht nicht nur über Anschauung und Begriff hinaus, sondern sie ist – wie Heidegger herausgearbeitet hat - dieses »Hinausgehen zum ›anderen' «. Dieses Hinausgehen ist ursprungslos und heimatlos.

Die reine, leere Vorstellung des Räumlichen verdankt sich bereits einem Vor-Blick (Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare). Ohne diesen 'Vor-Blick', dem 'Vor' vor dem 'Blick' oder Horizont, gäbe es keine Anschauung. Das 'Vorgreifende' dieser ihre eigene Ankunft aufschiebenden Anschauung trägt einen von Kant nicht eigens bedachten zeitlichen Index: Denn der Vorblick oder Horizont der Anschauung setzt als vor-weg-nehmende Zuwendung zu irgendeiner Gegenständlichkeit, die so erst entgegenstehen kann, seine eigene Vorwegnahme voraus. Der Horizont hat als solcher keine statische Einheit, sondern er wird als Horizont vorgehalten, er bleibt gleichsam in der Schwebe.« Der Horizont ist von einem Riss durchzogen, der alles Horizonthaft-Perspektivische aller erst bedingt, aber nicht in diesem enthalten ist. All dies besagt nun für die Ästhetik und Soziologie der immateriellen Medienkultur unserer Gegenwart vor allem: die Schemata von Raum und Zeit sind als Bild der Beharrlichkeit der varieszenten Einbildungskraft entsprungen. Diese ist immer schon re-produktiv, inter-medial, mimetische Distanznahme. Re-Produktion bedeutet nicht Nachahmung eines Originals, das verloren gegangen sei, sondern 'Wieder-Bei-Bringen von Identität und Beständigkeit im Sinne eines Erkundens von Horizonten. (wichtig für Designfragen wie Wissensordnungen: Hyperkult 9). Ich möchte diese Tendenzen, anschaulich und beispielhaft, als hybride Räume bezeichnen.

2. Hybride Räume

Hybride – so wegweisend Irmela Schneider in dem Buch 'Hybridkultur' - sind Mischformen, von zweierlei Herkunft, zwittrig also - im übertragenen Sinn - auch überheblich, vermessen. Letztgenannte Eigenschaft verweist schon auf eine Maß-losigkeit, die für die Analyse des Medienverbunds maßgeblich sein wird, in einem keineswegs nur negativen Sinn. In der Pflanzen- wie Tierzüchtung sind Hybride Nachkommen, die aus einer Kombination von Merkmalen und Eigenschaften hervorgehen, die für sich je eigenständig sind. Man spricht in der Informatik von hybrider Architektur, wenn auf Rechnern analoge wie digitale Daten interagieren können. Schlichter meint Hybridisierung die Vereinigung unterschiedlicher technischer Systeme auf einem Träger, etwa einer CD-ROM, die sowohl auf Dos- wie Mac-Rechnern abgespielt werden kann. Die Kategorie des Hybriden ist in diesem Sinne orientiert an der Steigerung von Effizienz. Übertragen auf das Feld der Medienkultur und – wissenschaft meint Hybridisierung mehr und hat doch mit der erwähnten Kombination von Medien zu tun: Das Hybride, Vermischte, sich Durchdringende oder Überlagernde gilt seit zwei Jahrzehnten als Kulturphänomen und Signatur unserer postmodernen Zeit. Die Rede ist von hybriden Räumen, virtuellen Metropolen, Ästhetiken. Hybrid Novels sind solche postmodernen Romane, die Erzählformen fragmentarisieren oder collagieren, Hybrid Cinema vermischt Genres des Dokumentarischen, Fiktionalen und Experimentalen; MusikVideos sind per se ein hybrides Genre, Rebecca Horns preußische Brautmaschine (1988) nennt sich 'hybrid', Stelarcs Mensch-Maschinemodelle am und im Körper sind es unmittelbar, Theaterperformances seit Robert Wilson, Video-Text- Ton-Installationen nicht erst seit Gary Hill verwenden hybride Formen. Vermischungen von E- und U-Musik dürfen ebenso wenig in der Aufzählung fehlen wie virtuelle, vor dem digitalen Sampling nicht mögliche Klangsynthesen. Und in der populären Soundkultur führt das Crossover zu dem Phänomen, das beispielsweise in Jamaica-Studios gesampelte Reggaemusik einem alteuropäischen 68er-Publikum zuliebe von Livebands auf der Bühne recycled werden. Wenn im Leitmedium Fernsehen Information und Unterhaltung zum Infotainement sich vermischt, haben wir es ebenso mit Hybridisation zu tun wie wenn 'Telenovélas' in Brasilien amerikanische Soaps mit uralten, magischen Deutungsmustern amalgamieren. Wenn das Internet die üblichen Kategorien des Privaten und Öffentlichen durcheinanderbringt, wie Kommunikationswissenschaftler eingestehen, weil die gewohnte Unterscheidung zwischen Einweg-Massenmedien und Zweiweg-Dialogmedien brüchig wird, dann nennt man dies Hybrid- oder Hypermedien. Die Kategorie des Hybriden, sie merken es schon, ist eine vorläufige, heuristische Kategorie und meint die Vermischung oder Verkreuzung von Codes, im Sinne Bachtins die Vermischung sozialer Sprachen, unabsichtlich oder absichtlich, mehr oder weniger karnevalesk, parodistisch. Bereits McLuhan sprach von dieser Hybridiserung oder Bastardisierung und meinte Übergänge von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, von Oralität und Literalität, die die Gutenberg-Galaxis bewirkte. Genauer die heutigen Phänomene an die Umbruchsituation der Digitaliserung bindend, beschreibt der Edmond Couchot in seinem maßgeblichen Aufsatz 'Die Spiele des Realen und des Virtuellen' [in: Florian Rötzer (hg.). Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien], dass erst mit dem Computer als interaktivem Medium die Frage nach dem Zwischenraum inter-medialer Gestaltungsweisen auftauchte.

In den (frühen) Videoinstallationen etwa von Peter Campus, Dan Graham, Vito Acconci, Mona Hatoun, Tony Oursler und Bruce Naumann gewinnt, wie Sabine Flach gezeigt hat [Körper-Szenarien. Zur ästhetischen Funktion und Bedeutung des Körpers in Videoinstallationen], mit der Frage nach dem Körper auch die Frage nach dem medialen Ab-Ort der Kunst eine neue Gestalt. Man wäre falsch beraten, wenn man nur wegen heutigem Multimedia den mit dieser Videokunst erreichten Stand der meainetheroetischen Refelxion vergessen würde. Die Video-Kunst belegt:

Der Körper ist nicht unmittelbar, nie ohne ihn einrahmende Bildlichkeit: es gibt zu exponierende Bilder des leiblichen Ich von sich und kulturelle Bilder zu sehen, Phantasmen des Narzißmus und dessen Brüchigkeit. 2. Videokunst ist die Unterbrechung zwischen opaker und transparenter Bildlichkeit 3. Die Zeitachsenmanipulation in der Videokunst disloziert in der Wiederholungskunst der closed circuit die gegenwartsverliebten Raumvorstellungen: sie verräumlicht im Sinne eines hetero-topen Raums (zu diesem Begriff siehe u.a. Daniel Libeskind, M. Foucault, Jacques Derrida). Der Rand des Räumlichen ist selbst eine Differenztechnik des Erscheinen- Lassens.

Das postdramatische Theater seit und nach Robert Wilson markiert einen weiteren Einschnitt: Die Theatralität des Theaters selbst wird hybrid, indem dieses 'intermediale Performanzen' verwendet, um die künstlerische Frage nach dem 'heutigen' Ort des Körpers, der gesellschaftlichen und kulturellen Zwänge und Normen neu zu stellen. Hybride Performanz heißt: Reflexion und Re-inszenierung von Vorbildern und Selbstbildern der zeitgenössischen Medienkultur (von den Talk Shows der endlosen Selbstbekenntnisse bis zu den Wunschkörpern via Internet-Webcams). In der Auseinandersetzung damit arbeiten postmoderne Performance-Künstler an einer Brechung der traditionellen Erzählweisen und symbolischen Ausdrucksformen. Anknüpfend nicht nur an Aktionskunst und Happening, sondern auch an Entwicklungen von Video- und Computer-Kunst werden in neuen Theaterformen Wahrnehmungsgewohnheiten aufs Spiel gesetzt, insbesondere die von den Medien geprägten Formen der Zeiterfahrung.

Ich fasse meine Überlegungen zusammen:

Dass der Umgang mit neuen Medien trotz ihres werbewirksamen Vorgriffs uns bisweilen verlegen macht, bekundet manche hektische Ratlosigkeit der Medienindustrie, der Politik und der Anwender. Nehmen wir die CD-ROM als Beispiel (HyperKult 1): gewiss stellt sie die Schrift- und Buchkultur vor neue Probleme in der An/Ordnung des Wissens (H.F. Spinner). Bisher lasen wir ein Buch, sahen einen Film, hörten eine Schallplatte. Im Computer zusammengeführt, ist nun ein assoziatives Sampling möglich. Aber ist diese Verschiebung der Hybridmedien ein Verfall? Ich denke nein: Nicht die Einbildungskraft zerfällt, wenn das Literarische in den Hypertext übersetzt wird: denn was sich in der Linearität des Buches als nicht-lineare Kunst einschrieb – Bedeutungsverschiebungen und Sinnentstellungen – lässt sich sehr wohl in Montagetechniken des neuen Mediums übersetzen; dessen junge Ästhetik freilich manchmal nur aus der oft schamlosen Plünderung vormaliger Darstellungsweisen besteht. Dass sich das jeweils neue Medium das ihm vorgängige unterwarf, ist medienhistorisch bekannt. So hatte bereits die Fotografie ihre Medialität verfehlt, als sie anfangs die Tafelmalerei imitieren wollte, so der Film, als er in seinen ersten Jahren versuchte, den Theaterraum in sich aufzusaugen. Alle neuen Medien reissen zunächst technisch ein Vakuum auf, das sie im selben Moment - gierig oder panisch - mit alten Medien zu füllen trachten, Dieses, den 'Choc' (W. Benjamin) überspringende Rückversichern geschieht, weil das neue Medium zunächst nur als technisches Instrument und nicht in seiner experimentellen Medialität 'angenommen' wird. Aber: der heterotope, offene Raum der Medien, das habe ich zu zeigen versucht, lässt sich mit dem Horizont digitaler Medien nicht ersetzen, sondern nur verschieben. Wie kann man das beschreiben? Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.