Friedrich Tietjen

Das Multiple als Etikett


The Critic Smiles nannte Jasper Johns das kleine Relief einer Zahnbürste aus Blei, Zinn und Gold, von dem er eine Auflage von 60 Exemplaren anfertigen liess. Die edition suhrkamp-Ausgabe der Schrift "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" diente Peter Zimmermann als Vorlage seines Siebdruckes Walter Benjamin . Beuys‘ Schautafeln für den Unterricht sind Photographien. Rob Scholte gab für Venice einem anderen Maler den Auftrag, eines seiner Bilder in 20 Exemplaren zu kopieren und signierte es auf der Rückseite. Für die Petits Monuments à Rotella montierte Mimmo Rotella jeweils eine Dose des gleichnamigen Dieselmotorenöls auf einen schlichten Holzsockel. Claes Oldenburgs Ausschneidebogen Air Flow erschien als Cover des Art News Magazins im Februar 1966. Neben George Brechts Water Yam liessen auch andere Fluxuskünstler wie Willem de Ridder, Robert Watts und Takehisa Kosugi kleine Kärtchen mit Handlungsanweisungen drucken, nach denen die Käufer selbst Ereignisse gestalten konnten. Tobias Stimm modellierte einen Kopf in zwölf voneinander verschiedenen Exemplaren aus Ton. Als Videoband erschien Sean Landers‘ Arbeit Italian High Renaissance and Baroque Art. Richard Hamilton liess ein Kunststoffgebiss an das Oberteil einer elektrischen Zahnbürste montieren: The Critic Laughs.

Der Kunstkritik zufolge feiert das Multiple neuerdings ein triumphales Comeback, nachdem es die längste Zeit der siebziger und achtziger Jahre in tiefem Schlummer lag. Eindrucksvolle Ausstellungen, einige Zeitschriftenartikel, vor allem jedoch eine kaum zu übersehende Produktion und Präsenz von Multiples auf dem Kunstmarkt sind Anzeichen dieser Wiedergeburt, die keine Störung dadurch erfährt, dass niemand so recht zu beschreiben vermag, was da eigentlich auferstanden ist. Die Versuche, dem Multiple eine Definition zu erfinden, wirken angesichts des Sammelsuriums an Medien, Materialien und Produktionstechniken eigentümlich hilflos. Man liest: "Mit dem Ausdruck [Multiple] bezeichnete man ... eine kleine Skulptur, die in relativ großen Stückzahlen vertrieben wird."1; oder: "Multiples [sind] Gegenstände, die ein Künstler in mehreren gleichen Exemplaren anfertigt (Druckgrafiken und plastische Objekte verschiedenster Art)."2; oder: "Das Multiple als vervielfältigtes dreidimensionales Objekt zählt (...) zu den bekanntesten und wohl auch meistverbreiteten Gattungen der Gegenwartskunst."3; oder: "Generally, [the multiple] was understood to be a three-dimensional object that was intended not as an unique work of art, but as an editioned original."4; oder ex negativo: "Perhaps it is easiest to describe the multiple by what it is not. Most agree that the graphic techniques does not qualify nor do editions of sculptures produced using orthodox fine-art casting techniques. The multiple is a confused hybrid."5 Allen Autoren dient jeweils die Materialität der Kunstgegenstände als Grundlage ihrer Definitionsversuche, doch dass deren Ergebnisse sich weder decken noch sämtliche oben exemplarisch aufgeführten Multiples erfassen ist so offensichtlich wie ihre Übereinstimmung in einem Punkt: Stets wird vorausgesetzt, dass es von einem Multiple mehrere Exemplare gibt. Doch mit dieser Feststellung allein ist wenig gewonnen, weil auch Graphiken, Photographien und Plastiken häufig in Editionen angefertigt werden und Multiples sein können, aber nicht sein müssen. Und gleichen sich die Exemplare einer Auflage dort zumeist wie ein Ei dem anderen, so gilt dies zwar auch für eine Reihe von Multiples, andere Arbeiten hingegen sind als Editionen von Unikaten herausgegeben worden und bei den Kärtchen der Fluxuskünstler spielt diese Frage einfach keine Rolle: Hier soll sich die Kunst nicht am Objekt manifestieren, sondern in den Happenings, die die Käufer nach den Vorschlägen der Künstler gestalten. Lassen sich schliesslich die meisten der graphischen Vervielfältigungstechniken auf die des Druckes, die der Photographie auf die Lichtempfindlichkeit einiger chemischer Verbindungen, die der Plastik auf den Guss von Metallen oder anderen Materialien zurückführen, so findet sich nichts vergleichbares für die Multiples: Bedienen sich manche Künstler bei ihren Arbeiten traditioneller künstlerischer Reproduktionstechniken, so beschränken andere sich bei Readymades auf den Akt der Auswahl und überlassen die Herstellung der Objekte der Industrie und dritte wiederum nehmen die Käufer in die Pflicht, selbst als Produzenten tätig zu werden.

So verfügen die Arbeiten über keine andere gemeinsame Eigentümlichkeit als den Begriff selbst, und an ihn muss man sich halten um zu klären, was das sein kann: ein Multiple. Seine Geschichte wie die der damit verbundenen künstlerischen Praxis ist kurz und setzt in den fünfziger Jahre ein, als verschiedene Künstler mit multiplikativen Herstellungverfahren zu experimentieren begannen. Einer der ersten war der Maler Jean Fautrier, der zwischen 1949 und 1950 mehrfach Serien eigener Graphiken händisch übermalte und so Bilder schuf, die als 'originaux multiples' ein Sujet in mehreren Exemplaren variierten. Die Bilder selbst jedoch konnten voneinander isoliert Stück für Stück als unikate Originale durchgehen, weil ihnen die Multiplizität ihrer Herstellung nicht anzusehen war und offenbar für die Arbeiten inhaltlich keine weitere Bedeutung gewann - nicht zuletzt deswegen, weil die Produktionsmethode Fautriers zunächst keine weitere Verbreitung fand.
Zu eigentümlichen Hybriden aus Kunstwerk und Gebrauchsgegenstand gerieten die Objekte, die gegen Ende der fünfziger Jahre zum Teil renommierte Künstler im Auftrag von grossen Firmen realisierten. Bekanntestes Beispiel dafür sind die Scultura di Viaggio von Bruno Munari, die das Mailänder Einrichtungshaus Danese in seinen Katalogen als Multipla anbot. Aus Pappe gefertigt, faltbar und also leicht zu transportieren sollten diese kleinen Objekte die heimische Wohnung und auf Reisen das Hotelzimmer verschönern. Die spätere Kritik zeigte sich wenig angetan von solchen "Objekten mit rein ästhetischem Zweck"6 und befürchtete, dass die Kunst bei solchen Editionen zum Gadget verkomme. René Block schreibt dazu 1974: "(Diese Objekte) bewegen sich außerhalb jener ästhetischen Botschaft, die ein Multiple eigentlich vermitteln soll. Sie sind Dekorationsstücke, zugeschnitten auf den Homo ludens in uns, am Rande der Scherzartikelindustrie."7

Blocks Diagnose trifft nur teilweise: Dass die Sculturi di Viaggio, die von Philips vertriebenen Lichtobjekte Nicolas Schoeffers und die bei Rosenthal angefertigten Porzellanarbeiten Fontanas und Vasarelys ihn die eigentliche Botschaft des Multiples vermissen liessen, liegt gewiss weniger an den Objekten selbst: Immerhin hat Munari kurz darauf auch erfolgreich Multiples entworfen und war Schoeffers Lumino späteren Multiples von OpArt-Künstlern durchaus ähnlich. Schwerer dürfte wiegen, dass alle diese Editionen zur Zeit ihrer Entstehung (und implizit auch noch von Block) an traditionellen Ästhetiken gemessen wurden, in denen die serielle Fertigung von Objekten für diese keinen eigenen ästhetischen Wert begründete - sie machte sie im Gegenteil eher suspekt, wenn sie als Gegenstände einerseits kaum einen Gebrauchswert, als Kunstobjekte andererseits kaum einen Ausstellungswert zu besitzen schienen. Der Kontext, den Multiples zu ihrer Entfaltung ebenso benötigten wie sie ihn herstellten, konnte bei einem solchen isolierten Auftreten nicht entstehen. Entscheidend dafür sollte werden, dass die Produktion von verschiedenen Objekten verschiedener Künstler in einer Edition zusammengefasst wurde, deren Vergleich das Prinzip der Kunstform erschliessen konnte.
Genau diese Veränderung an der Produktionsweise der Multiples nahm Daniel Spoerri vor, als er 1959 die Edition MAT (Multiplication d‘Art Transformable) gründete,8 und wohl aus diesem Grund beziehen sich fast alle Autoren auf diese Zäsur, wenn sie die Geschichte des Multiples von der seiner Vorläufer trennen wollen. Spoerri hatte gegen Ende der fünfziger Jahre mit verschiedenen Künstlern über die Produktion serieller Kunst korrespondiert und für die von der geplanten Edition verlegten Stücke drei Prinzipien formuliert, um zu verhindern, dass sie allein ästhetisches Wohlgefallen auslösten: Die 'Multiplikate' sollten nicht mit den üblichen künstlerischen Vervielfältigungstechniken hergestellt werden, womit die klassischen reproduktiven Gattungen Grafik, Photographie und Plastik ausgeschlossen waren; sie sollten die ihnen innewohnende Idee ohne die persönliche Handschrift der Künstler am Objekt mitteilen, was einerseits deren Selbstinszenierung verhinderte und es andererseits ermöglichte, dass sie die Produktion der Stücke aus der Hand geben konnten; schliesslich sollten die 'Multiplikate' beweglich oder anders veränderlich sein und die Betrachter selbst an der Kunstproduktion teilnehmen lassen. Multiplikation bezeichnete damit für Spoerri mehr als bloss einen besonderen Modus der reproduktiven Herstellung von Kunst: Sie sollte den Stücken selbst inhärent und in der Rezeption ablesbar sein. Die Auflage jeder Arbeit wurde auf jeweils 100 Exemplare limitiert, die jedoch nicht von vornherein en bloc angefertigt wurden - produziert wurde nach Bedarf und Bestellung und meist nach Modellen, Skizzen oder Beschreibungen, die die Künstler Spoerri übergeben hatten, der dann die einzelnen Exemplare anfertigte oder in Auftrag gab, wobei zuweilen unterschiedliche Materialien verwandt wurden; die Signatur der Künstler und die Numerierung wurden mit Klebeetiketten angebracht.

Schon für die erste 1959/60 herausgegebene Collection der Edition MAT, die getreu dem Namen sich bewegende und bewegliche Kunstgegenstände enthielt, konnte Spoerri neben damals noch unbekannten Künstlern wie Jesus Raphael Soto, Jean Tinguely und Dieter Roth auch deren ältere und etablierte Kollegen gewinnen: Von Marcel Duchamp wurden die Rotoreliefs angeboten und Man Ray liess den 1920 als Einzelstück angefertigten Lampshade als Spirale replizieren, ein kegelartig gebogenes Aluminiumblech, das an seiner Spitze aufgehängt sich in der Luft bewegen sollte. Die Arbeiten der anderen Beteiligten fielen je nach künstlerischem Credo aus und waren fast ausschliesslich der OpArt verpflichtet: Yaakov Agam bot dem Käufer seiner Arbeit 8+1 in Bewegung an, Holzstäbe verschiedener Länge auf einem gelochten schwarzen Brett zu arrangieren; Enzo Maris Objet à composition renouvable gibt ihm einen flachen Glaskasten an die Hand, in dem drei- und viereckige Holzstückchen geschüttelt sich zu immer neuen Konstellationen fügen; bei Frank Malinas Mobilem Lichtbild - Herkules werden Plexiglasstreifen und Spiegel durch einen Motor bewegt und werfen wechselnde Lichtreflexe auf eine Mattglasscheibe.
Der kommerzielle Erfolg der Edition MAT hielt sich indes in Grenzen: Spoerri hatte versucht, den Vertrieb der Multiples über einen Versandkatalog und Verkaufsausstellungen zu organisieren, um nicht auf das traditionelle Galeriensystem angewiesen zu sein. Die Ausstellungen in verschiedenen grossen Städten Europas fanden zwar Resonanz in der Presse, doch konzentrierte sich das Interesse der Käufer bei dem einheitlichen Preis meist auf die Objekte der bekannten Künstler, die damit relativ billig erschienen. Spoerri, der neben der Anfertigung der Multiples auch ihren Vertrieb und die Ausstellungen betreute, war der Arbeit allein bald müde und befasste sich mit anderen Projekten, bis er 1963 auf Anregung Karl Gerstners und mit ihm zusammen begann, neue Kollektionen der Edition MAT vorzubereiten. Gerstner sorgte auch dafür, dass sich die Zielsetzung der Edition veränderte: Hatte die erste Kollektion vor allem kinetische Objekte als 'art transformable' enthalten, sollten nunmehr 'Originale in Serien'9 aufgelegt werden. Entsprechend veränderten sich die Arbeiten, die in die von Spoerri und Gerstner gemeinsam herausgegebenen Collectionen von 1964 und 1965 aufgenommen wurden: Neben die kühlen und präzis gefertigten Stücke der OpArt, die sorgfältig berechnet visuelle Phänomene mit teils aufwendig verarbeiteten Materialien in Szene setzten, traten Werke der 'Nouveaux Réalistes', die als Unikate herkömmlichen Originalen formal noch am nächsten kamen und oft aus dem gefertigt waren, was den Künstlern der Alltag und der organisierten Zufall in die Hände spielte. Dabei beschränkten sich eine Reihe von Arbeiten nicht auf ihre multiplikative Herstellung, sondern vervielfältigten auch die Möglichkeiten ihrer Betrachtung: Paul Talmans Bild aus 25 halb schwarz, halb weiss gespritzten Kugeln lässt sich auf einem schwarzen oder weissen Grund beliebig oft neu arrangieren; bei einem Objekt ohne Titel von Karl Gerstner kann der Käufer hinter einer grossen Linse aus Plexiglas Siebdrucke mit geometrischen Mustern oder eigene Blätter legen, die je nach Standpunkt verschieden verzerrt erscheinen. Für die neuen Kollektionen der Edition MAT hatten sich Spoerri und Gerstner der Unterstützung des Kölner Galeristen Hein Stünke versichert, der die Organisation des Vertriebs übernahm. Damit war ein grundsätzlicher Eingriff in das bislang geübte Verfahren der Edition verbunden: Stünke setzte durch, dass die Multiples zu Preisen verkauft wurde, die sich am Marktwert des jeweiligen Künstlers orientierten. - Die Collectionen der Jahre 1964 und 1965 waren auch kommerziell durchaus erfolgreich, doch als Stünke Spoerri 1965 anbot, die Rechte auf den Namen MAT für 2.000 DM zu kaufen, sagte er zugunsten neuer Pläne zu. Stünke führte die Edition MAT noch bis zu Beginn der siebziger Jahre weiter, ohne jedoch neue Collectionen zu produzieren.

Praktisch zeitgleich zur Edition MAT entstanden zu Beginn der sechziger Jahre auch in den USA vor allem im Umkreis der PopArt Kunstformen, die Unikate und Reproduktionen gegen den Strich bürsteten und die Kunst aus ihrem elitären Exil lösten: Jasper Johns hatte bereits 1958 Skulpturen wie Painted Bronze (Ale Cans) in kleinen Serien aufgelegt. Claes Oldenburg eröffnete im Dezember 1961 in New York The Store , ein kleines Geschäft in der Lower East Side, wo er aus Pappmacheé, Gips, Farbe und anderen billigen Materialien handgemacht als Objekte anbot, was die Läden in der Nachbarschaft auch verkauften: Süsswaren, Fastfood, billige Kleider. Andy Warhol zog 1962 seine ersten Siebdrucke ab und verteilte handsignierte Campbell Dosen. Allein ein organisatorischer Rahmen fehlte zunächst und verdankte seine Entstehung dann dem New Yorker Zeitungsstreik 1962/63: Weil Ausstellungen nicht mit Anzeigen anzukündigen waren, wurden Transparente für die Strasse mit PopArt Designs gemalt, die auffällig genug waren, um selbst Kunst zu werden. Künstler und Galeristen gründeten daraufhin die Betsy Ross Flag and Banner Company, die zunächst tatsächlich nur Transparente und Flaggen in Serien produzierte, aber bald ihre Aktivitäten erweiterte. Im Oktober des folgenden Jahres wurde die Bianchini Gallery in New York zum American Supermarket umgebaut, organisiert vom Galeristen Paul Bianchini selbst, Dorothy Herzka und Ben Birillo Die dort verkauften Multiples wieden zu denen der Edition MAT keine grosse Ähnlichkeit auf: Claes Oldenburg steuerte von seinen Süsswaren und Kuchen bei, Tom Wesselmann stellte einen übergrossen Truthahn aus vakuumgeformten Plastik aus, Robert Watts bot Pumpernickelscheiben aus Gips und verchromte Eier an und Roy Lichtenstein und Andy Warhol besorgten neben anderem das Design der Einkaufstaschen aus Papier. Der Erfolg des American Supermarket zog schnell weitere Projekte nach sich: Rosa Esman begann im gleichen Jahr, PopArt Künstler für eine gemeinsame Edition zu interessieren; Seven Objects in a Box mit Arbeiten von Warhol, Dine, Lichtenstein, Oldenburg, Segal, Wesselmann und d‘Arcangelo wurde 1966 herausgegeben. Ebenfalls 1964 wurden im Museum of Modern Art unter dem Titel "Work of Art in Editions" in einer kleinen Ausstellung Multiples der Edition MAT gezeigt. Davon beeindruckt beschlossen die Betreiber der Betsy Ross Flag and Banner Company, den Akzent der Produktion zu verändern. Barbara Kulicke erinnert sich: "[It] became evident that it [ die Betsy Ross Flag and Banner Company, f.t.] could not sustain itself as an independant business. (...) I met with Marian Goodman who was looking for a place and business. Multiple editions of all kinds of art objects using all kinds of material was the plan. We agreed on MULTIPLES as the name. Ursula Kalish came in with Marian ... so there were five of us at the beginning of Multiples. A gallery/store on Madison Avenue and 70th Street was opened on the night of the big blackout."10 Um sich rechtlich abzusichern, besuchten Marian Goodman und eine Kollegin Daniel Spoerri, der sich gerade in New York aufhielt und später darüber erzählte: "Sie (Marian Goodman und ihre Kollegin, f.t.) hatten damals die 'Betsy Ross Flag-Company' gehabt und haben mich gefragt, ob ich das Copyright für den Begriff Multiple hatte und ob es in Ordnung sei, wenn sie den auch benutzen könnten. Ich fand das etwas amüsant und sagte 'ja, sicher können Sie das'."11 Die Galeristinnen benannten daraufhin die Betsy Ross Flag and Banner Company zu Multiple Inc. um (und besorgten ausserdem den Vertrieb der Arbeiten aus der Edition MAT in den USA). Damit avancierte der Terminus endgültig zum Synonym der neuen Kunstform und fand so wenig später seinen Weg nach Europa zurück, um dort von der Pariser Galeristin Denise René aufgegriffen zu werden, die mit Spoerris Überlegungen zur seriellen Kunst schon seit den fünfziger Jahren vertraut war. Sie schreibt: "In 1966 ... we decided with the artists to realize a ... choice of their works under the name of 'multiple'."12 Zu diesen Künstlern zählten neben anderen auch Vasarely und Soto, die so die Kontinuität zur Edition MAT selbst herstellten. Als die Editionen und der sie verbindende Begriff Erfolg hatten, versuchte Denise René, sich den Namen als Markenzeichen sichern zu lassen - leider vergeblich: "The word 'multiple' (had been) already in the common vocabluary, it has not been possible to get the 'nom déposé'."13 Über Nacht fast war der Begriff zu einem gängigen Terminus in der Kunstwelt geworden: "Depuis six mois, le mot «multiple» se rencontre au détour de chaque page de journal, sur les cartons d‘invitation et les affiches de nombre d‘exposition, il s‘entend à la radio, à la télévision - bref, il se multiple."14

So schnell sich der glücklich gewählte Begriff durchsetzte, so wenig war damit für die neue Kunstform des Multiples irgendeine gemeinsame methodische oder ästhetische Grundlage formuliert. Der Terminus 'Multiple' begann, Merkmale eines Markennamens anzunehmen, wenngleich in einem ganz anderen Sinne als dem von Denise René beabsichtigten: Ähnlich wie die Alltagssprache Tempo und Tixo längst von den Markenprodukten gelöst und zu Synonymen für Papiertaschentücher und Klebestreifen umgeschmolzen hat, eigneten sich Künstler und Galeristen den Begriff an: Einem Etikett gleich hefteten sie ihn an verschiedenste Kunstgegenstände, die in Editionen erscheinen konnten. Die Prinzipien, die Spoerri einst für die Edition MAT aufgestellt hatte, wurden keinesfalls für alle Multiples verbindlich. Bald fanden sich Arbeiten, die mit traditionellen Vervielfältigungsmethoden hergestellt wurden: So ist etwa Robert Indianas Number Box von 1966 ein Siebdruck auf Holz, und schon Marcel Duchamps Rotoreliefs für die Edition MAT waren als Offsetlithographien gedruckt worden; die persönlicheHandschrift lässt sich bei Tomas Schmidts Quadratur des Kreises nicht übersehen, für die der Künstler insgesamt 720 Buntstiftzeichnungen anfertigte, von denen je 24 Blätter in einen Karton gelegt wurden, so dass eine Auflage von 30 Exemplaren dieses Multiples zustandekam; eine ganze Reihe von Multiples schliesslich waren weder beweglich noch erlaubten sie dem Betrachter Zugriffe, die über das übliche Mass - der Bewegung um das Objekt herum und manchmal seiner Berührung - hinausgingen. Nach kurzer Zeit liess sich kaum eine ästhetische, kaum eine Norm der Herstellung von Multiples mehr denken, die nicht durch andere Multiples konterkariert wurde: Editionen von Unikaten begegneten Serien von Stücken, deren grösstmögliche Identität durch industrielle Produktionsmethoden erreicht werden sollte; mit raffinierten künstlerischen Techniken gefertigte Arbeiten trafen auf Readymades; limitierten standen unlimitierte Auflagen gegenüber.

Mit dieser Diversifizierung ging auch die Möglichkeit verloren, das Multiple als Gattung zu etablieren, da mit dem Begriff nicht mehr auf die Materialität oder die Produktionsmethode der von ihm bezeichneten Stücke reflektiert werden konnte (denn die serielle Herstellung als kleinster gemeinsamer Nenner aller Multiples schlösse ja nicht nur diese ein sondern auch Graphiken und eine Reihe von Plastiken). Angesichts der uneinheitlichen und einander widersprechenden Definitionen begann der Terminus 'Multiple' ein Eigenleben zu führen, das der parasitär sich aller denkbaren Gattungen, Materialien und Produktionweisen bedienenden Kunstform entsprach: 'Multiple' war nicht mehr ein Name, sondern wurde zum Additiv, zum Attribut und damit selbst zum Teil der Objekte. Anstatt den traditionellen Klassifizierungen der Kunst eine weitere hinzuzufügen wird damit ein Kontext sowohl beschrieben als auch hergestellt, dem sich jedes beliebige Kunstobjekt zuordnen lässt, ohne dafür eine andere Bedingung zu erfüllen als jene, auf die der Terminus selbst hinweist: Indem er die Multiplikation benennt, stellt er die serielle Fertigung der Objekte demonstrativ aus und betont, dass neben dem einen vorliegenden Stück noch weitere existieren, die identisch in Titel, Autor und Material sind und deren ästhetischer Wert gleich ist trotz aller möglichen äusserlichen Unterschiede. Genau darin liegt auch die entscheidende Differenz zwischen Multiples und Graphiken: Zwar ist es bei letzteren - von Monotypien abgesehen - selbstverständlich, dass von jeder Druckplatte mehrere Blätter abgezogen werden, doch die Serialität ihrer Herstellung wird bei Graphiken vergleichsweise selten als eigener ästhetischer Wert inszeniert, und von der Äquivalenz der Stücke untereinander kann keine Rede sein, im Gegenteil: Weil die Druckstöcke sich abnutzen sind unter Sammlern frühe Abzüge begehrter und teurer.15

Wenn also Graphiken trotz ihrer seriellen Produktion eher als Einzelstücke betrachtet werden, deren Unterschiede es nicht erlauben , sie gegeneinander auszutauschen, verweisen die Multiples, die Käufer, Sammler und Museen ihr eigen nennen, stets auf die anderen Exemplare der gleichen Edition. Auf diese Weise können ihre Produktionszusammenhänge in den Blick geraten, die mitunter ironisch und überdeutlich kenntlich gemacht werden: So etwa, wenn Ben Vautier im Titel einer Arbeit von 1971 deren Auflage und auch die mögliche Herstellungsweise benennt und ihn auf ein Pappetikett geschrieben am Objekt selbst, einem süddeutschen Weissweinglas, mit einer Schnur befestigt: I Ben Drank Wine in 20. Glass! Nicht um das eine Weinglas als isoliertes Objekt geht es hier, sondern ebenso um die 19 anderen, die durch die Geschichte verbunden werden, die der Titel erzählt. Eher ungeplant hat Claes Oldenburgs Wedding Souvenir zu einer Art sozialen Reflexion über das Multiple geführt: "1966 machte er (Claes Oldenburg, f.t.) ... in einer großen Edition gipserne Kuchenstücke für ein Hochzeitsfeier in Los Angeles. (...) Achtzehn Stücke wurden silbern bemalt und dem Hochzeitspaar als Torte präsentiert, während die übrigen einzeln den Gästn geschenkt wurden. Auf eine seltsame Weise wurden diese Geschenke, die das gemeinsame Genießen des Glücks bezeichnen sollen, inzwischen die Objekte eines anderen, prosaischeren Rituals. Da sie als Geschenke entworfen waren, hatten die einzelnen Kuchenstücke nie einen hohen kommerziellen Wert; aber mittlerweile haben ganze Kuchen, die nun eher als Skupturen denn als Multiples angesehen werden, einen beachtlich hohen Marktwert erreicht, so daß viele, die einzelne Stücke besitzen, nun zusammenfinden, um neuen Reichtum zu gewinnen. Und so funktioniert dank einer ungewollten Ironie der Geist der Gemeinschaft, der sich in der Romantik der Hochzeitstorte und ihrer Verteilung an die Gäste ausdrückt, weiterhin, allerdings auf weniger hochgesinnte Weise."16 Was sich hier dem Zufall und dem Kunstmarkt verdankt, hat Thaddeus Strode bei seinem 1991 entstandene Multiple I‘m A Lead Box zumindestens als Möglichkeit von vornherein angelegt: Jedes der 18 Exemplare der Edition besteht aus einer Pappschachtel, deren Inhalt neun verschiedenfarbig beschichtete Aluminiumbleche sind, die sich wie ein Puzzle zusammensetzen lassen. Bleibt das Arrangement hier dem Gutdünken der Käufer überlassen, verlangen die ebenfalls bedruckten Oberseiten der Boxen nach einer strengeren Ordnung: Nur wenn alle 18 Exemplare beisammen sind, lassen sie sich so zusammenfügen, dass ein komplettes Bild der Comicfigur Daredevil erscheint (Eine Photographie dieses Bildes ist ebenfalls jedem der Multiples quasi als Vorlage beigefügt). Nicht kontemplative Aufnahme und Auseinandersetzung mit einer material geronnenen künstlerischen Idee wird als Rezeptionshaltung nahegelegt, sondern Ergänzung, Veränderung, Anwendung und jedenfalls eigene Tätigkeit des Betrachters. Multiples funktionieren nicht im Singular, sondern nur im wenigstens virtuellen Plural.

Diese Betonung des Plurals lässt sich nicht nur den einander wie auch immer ähnlichen Exemplaren einer Edition ablesen, sondern kehrt als Figur auf verschiedenen Ebenen wieder. Sei es, dass nur wenige Künstler sich auf die Produktion nur eines Multiples beschränkt hätten; sei es, dass immer wieder Arbeiten verschiedener Künstler zu Sets zusammengefasst wurden (Seven Objects in a Box von 1966 umfasste Arbeiten von d‘Arcangelo, Dine, Lichtenstein, Oldenburg, Segal, Warhol und Wesselmann; für jedes einzelne Exemplar des Fluxkit aus dem gleichen Jahr wurden andere Objekte ausgewählt; und die Bébert Editions aus Rotterdam bieten Contemporary Archeology in drei Teilen mit Multiples aus drei Jahrzehnten an); sei es, dass den Objekten selbst repetitive Strukturen zugrundeliegen (ofensichtlich bei den Multiples der OpArt-Künstler in der Edition MAT), sei es, dass manche formale Elemente manchmal überraschend von Künstlern verschiedener Richtungen verwendet werden (Schachteln etwa finden in der PopArt ebenso Verwendung wie bei Fluxus); sei es, dass manche Künstler ihre Motive wiederholen (Claes Oldenburg arbeitete eine Weile bevorzugt mit Abformungen von Lebensmitteln; von Takako Saito gibt es eine Reihe von Schachspielen, die die Standardregeln des Spiels immer wieder neu variieren) - es scheint, als könne sich die Vervielfältigung als grundlegende Methode des Multiples gar nicht nur auf die Herstellungsweise der Objekte selbst beschränken. Wenn Jeanne Vilardebo schreibt, dass sich das Multiple multipliziere, berührt sie damit einen Kern dieser Kunstform: ihre reproduktive Herstellung ist selbst Gegenstand der Multiples.

Es war entscheidend für die Entstehung des Kontextes, den der Terminus Multiple bezeichnet, dass Spoerri in den Collectionen der Edition MAT verschiedene in Auflagen hergestellte Objekte zusammenstellte. Mit anderen Worten: Für die Herstellung des Kontextes war es notwendig, dass nicht nur ein Kunstgegenstand in Auflage produziert wurde sondern auch, dass daneben vergleichbare Objekte anderer Künstler existieren, denen das selbe Etikett verliehen werden konnte. Erst in dem Moment, als eine Reihe solcher seriellen Arbeiten zusammengefasst waren, konnte das Konzept des Multiples sich entfalten. Insofern macht es wenig Sinn, den terminus post quem des Multiples in die Zeit vor der ersten Collection der Edition MAT zu rücken, obwohl es andererseits durchaus möglich ist, Arbeiten nachträglich als Multiples zu etikettieren, die entstanden, bevor der Begriff geprägt wurde. Wenn jedoch Arturo Schwarz für Marcel Duchamp die Erfindung der Kunstform reklamiert und in den frühen in Auflagen von drei Exemplaren herausgegebenen Readymades die ersten Multiples erkennt,17 sieht er zum einen über diese notwendigen Bedingungen hinweg, und vernachlässigt zum anderen, dass für den Künstler in erster Linie weniger die Beziehungen und die ästhetische Äquivalenz der identischen Stücke als Kunstobjekte untereinander bedeutsam waren als vielmehr ihre Austauschbarkeit gegen ordinäre Flaschentrockner, Urinbecken und Garderobenbretter. Duchamp bemerkte 1961 in einer Rede dazu: "ANOTHER ASPECT OF THE READYMADE IS ITS LACK OF UNIQUENESS ... THE REPLICA OF A "READYMADE" DELIVERING THE SAME MESSAGE; IN FACT NEARLY EVERY ONE OF THE "READYMADES" EXISTING TODAY IS NOT AN ORIGINAL IN THE CONVENTIONAL SENSE."18 Zum Zeitpunkt der Rede fehlten Duchamps Readymades tatsächlich die Qualitäten des Unikates in jeder Hinsicht. Viele der Industrieprodukte, von denen Duchamp einzelne zu Readymades tranformiert hatte, wurden nicht mehr in ihrer einstigen Form hergestellt. Manche der Objekte waren später mehr oder weniger handwerklich und als Einzelstücke hergestellt worden; doch zum Auflagenobjekt wurden Duchamps Arbeiten erst in den sechziger Jahren, als Arturo Schwarz in Zusammenarbeit mit ihm eine Reihe von verlorenen Readymades in jeweils acht Exemplaren herstellen liess. Dabei wurden nicht etwa zeitgenössische Industrieprodukte verarbeitet, die - folgt man der zitierten Äusserung Duchamps - als gleichwertige Repliken durchaus hätten dienen können, sondern es wurden vielmehr unter zuweilen enormem technischen Aufwand möglichst genaue Rekonstruktionen der verlorenen Arbeiten angefertigt; Duchamp signierte die Objekte, an denen zusätzlich noch der Titel des replizierten Readymades, eine Numerierung und der Name des Galeristen angebracht wurde.19 Die Exemplare dieser Editionen hatten damit einen grundlegend neuen Status, der auch die Botschaft der eigentlichen Readymades berührte: Hatte Duchamp bei diesen betont, dass ihn bei der Auswahl aus unendlich vielen möglichen Gegenständen allenfalls antiästhetischen Kriterien leiteten, wurde bei jenen nicht dieser Akt wiederholt, sondern allein die physische Erscheinung der einst ausgewählten Objekte. In der Bemühung um grösstmögliche Treue zu ihren Vorbildern ästhetisierten sie diese nicht nur und erhoben sie endgültig zu Kunstwerken, sondern machten die einzelnen verschollenen Readymades retroaktiv auch zu einem, nämlich zu ihrem Original.

Weder diese originalen Readymades noch deren Kopien hat Duchamp selbst als Multiples bezeichnet; doch als letztere von ihm und Schwarz herausgegeben wurden, war die erste Collection der Edition MAT bereits erschienen, zu der mit den Rotoreliefs wiederum auch eine Arbeit Duchamps zählte. Zum ersten Mal waren sie 1935 anlässlich einer Erfindermesse in Paris in 500 Exemplaren aufgelegt worden; weitere 1.000 Exemplare wurden 1953 in New York gedruckt. Als Daniel Spoerri Duchamp um einen Beitrag für die Edition MAT bat, schickte der ihm 100 Exemplare dieser Ausgabe. Duchamp hatte vorgesehen, dass die Rotoreliefs auf dem Plattenteller von Grammophonen gelegt werden sollten; Spoerri lieferte seinen Kunden zu den bedruckten Pappen eine Drehscheibe und ein mit schwarzem Samt verkleidetes Gehäuse für den Motor. Doch sind es nicht diese Veränderungen des Gegenstandes, die die Rotoreliefs zu Multiples machten; entscheidend war auch hier der Kontext mit den anderen in der Edition MAT zusammengefassten Arbeiten: Erst dieser und die Anwendung von Spoerris Prinzipien liess sie dazu geraten. Anders formuliert: Für die Rezeption eines Objektes als Multiple ist nicht allein dessen Materialität oder die etwaigen Spuren der seriellen Fertigung entscheidend sondern auch das, was ihm an Bedeutung zugeschrieben wird, die sich am Objekt selbst gar nicht erkennbar niederschlagen muss. Aus diesem Grund auch werden mit den Rotoreliefs der Edition MAT weder die Exemplare der Ausgabe von 1953 noch jene von 1935 automatisch zu Multiples . Zwar ist es durchaus denkbar und legitim, ihnen nachträglich dieses Etikett anzuheften - doch wäre dies ein künstlerischer Akt, der methodisch jenem gleicht, mit dem Duchamp 1917 eine Urinschüssel zum Kunstobjekt deklarierte, indem er sie in den Kunstkontext einer Ausstellung bringen lassen wollte.


Das Multiple und die Reproduktion

Dieser Einsatz Duchamps machte ihn zwar nicht zum Erfinder, wohl aber zum Wegbereiter des Multiples. Er hatte zeigen können, dass Objekte nicht durch bestimmte ästhetische Eigenschaften zu Kunstwerken wurden, sondern dass dafür vielmehr eine durch den Kontext evozierte Rezeption verantwortlich ist. Über die Fountain sagte Duchamp später: "Meine Pissoir-Fontäne ging von der Vorstellung aus, eine Exerzierübung durchzuspielen über die Frage des Geschmacks: Das Objekt auszuwählen, das am wenigsten Chancen hatte, geliebt zu werden. Eine Pissoirschüssel, es gibt sehr wenige Leute, die das wunderbar finden. Denn die Gefahr ist das künstlerische Sichergötzen. Aber man kann auch veranlassen, daß die Leute alles schlucken: das ist dann auch eingetreten."20
Nicht minder wichtig für die Entwicklung des Multiples war die Konfrontation der Kunst mit den industriellen Produktions- und Reproduktionsverfahren, die sich seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts entfalteten. In diesem Zusammenhang ist nicht allein die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks von Bedeutung; sie ist ein freilich besonders bedeutender Sonderfall der gesellschaftlichen Produktionsweise, deren Entwicklung bis heute anhält. Multiples sind jedoch zu einem Gutteil keine Reproduktionen von Vorlagen, die dadurch - wie im Fall von Duchamps Readymades gezeigt - zu Originalen werden, sondern ähnlich den meisten industriell hergestellten Gegenständen liegen ihnen verschiedenartig kodifizierte Produktionsmodi zugrunde, die häufig eine praktisch unbegrenzte Vervielfältigung jeden Objektes ermöglichten.

Als sich diese Verfahren - sowohl die einer solchen Multiplikation wie auch der eigentlichen technischen Reproduktion - im 19. Jahrhundert entwickelten, sahen sie sich traditionellen handwerklichen Verfahren gegenübergestellt. Für die Kunst markiert die Erfindung der Lithographie den ersten entscheidenden Einschnitt: Sie vermochte Bilder schneller und in höherer Stückzahl und deshalb billiger zu produzieren als es mit Holzschnitt und Kupferstich bis dahin möglich gewesen war. Die wenig später entwickelte Photographie und ihre Druckverfahren erweiterten diese Möglichkeiten noch: Lehnte sich die Lithographie noch an das handwerkliche Verfahren der Zeichnung an, konnte mit der Photographie "die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion zum ersten Mal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten (entlastet werden), welche nunmehr dem Auge allein zufielen."21 Wohl erforderten die ersten Daguerrotypien stundenlange Belichtungszeiten und blieben Unikate - bald aber 'sah' die Photographie mit Verschlusszeiten unter 1/25 s schneller als das Auge, konnten spezielle Objektive makro- und mikroskopisch in Bereiche eindringen, die dem unbewehrten menschlichen Auge verschlossen blieben.

Noch eine weitere Folge hatte die Erfindung der Photographie: Ihre Bilder - ob als Abzüge oder als Drucke - wurden schnell billiger als noch die flüchtigsten künstlerischen Verfahren. Einen ganzen Berufsstand kostete das die Existenz: Binnen weniger Jahre hatten Photographen die Miniaturporträtmaler verdrängt. Wer sich vordem vielleicht ein einziges Mal hatte konterfeien lassen, konnte sich nun auch in den verschiedensten Lebensumständen bildlich festhalten lassen. War dafür zunächst noch der Photograph als Spezialist notwendig, machten die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten Photoautomaten deutlich, dass auch er verzichtbar sein konnte. Die Erfindung der Negativverfahren und die Automatisierung der Filmentwicklung durch den Kodak-Eastman-Prozess ("You press the button - we do the rest") gab diese modernste Form der Bildproduktion schliesslich in die Hände der Konsumenten.

Damit war die Produktion von Bildern dessen entkleidet, was sie vordem fast ausschliesslich der Kunst und den Künstlern vorbehalten hatte: Die neuen Techniken der Produktion konnten ohne Autoren und Originale auskommen, und sie beschränkten sich nicht darauf, der Kunst einfach nur Konkurrenz zu machen, sondern nahmen bald sie selbst zum Gegenstand ihrer reproduktiven Verfahren. Kunstwerke verloren ihre Einmaligkeit und ihren festen Ort; zwischen Familienphotographien und Ansichtskarten konnte nun auch der Abzug oder Druck eines beliebigen Gemäldes oder Gebäudes, einer beliebigen Skulptur seinen Platz einnehmen.
Neben diesen reproduktiven und multiplikativen Verfahren der Bildproduktion revolutionierten die neuen Techniken auch andere Bereiche der Kunst: Neue Gusstechniken ermöglichten es, Plastiken und Nippes in praktisch beliebiger Anzahl herzustellen; in der Architektur fanden zunehmend Fertigbauteile Verwendung; kaum ein Zweig des Kunstgewerbes - ob Tischlerei, Keramik oder Uhrmacherei - blieb von industrieller Konkurrenz verschont.

Unter diesen Bedingungen musste der Ort der Kunst innerhalb der gesellschaftlichen Produktion neu bestimmt werden; Künstler und Kunsttheoretiker gingen dabei im wesentlichen von zwei verschiedene Ansätzen aus, die Germer die ästhetizistische und die produktivistische Antwort nennt: "Ästhetizisten begrüßten die Trennung von Kunst und Gesellschaft, weil sie in ihr die einzige Chance sahen, die künstlerische Arbeit vor der Vereinnahmung und Vernichtung durch den Kapitalismus zu retten. Dem Künstler übertrugen sie die Aufgabe, in seinem Schaffen all jene Qualitäten zu bewahren, die in der gesellschaftlichen Produktion liquidiert wurden: Individualität, Originalität und Autonomie. Die Kunst geriet durch diese Arbeitsteilung in ein eigentümliches, zeitliches Verhältnis zur übrigen gesellschaftlichen Produktion. Gemessen am Stand der Produktivkräfte war ihr Beharren auf Handarbeit, Einzelwerk und schöpferischem Individuum unzeitgemäß: gleichermaßen anachronistisches Festhalten an einem gesellschaftlich Überholten wie utopische Vorwegnahme einer Überwindung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Künstler stand abseits, aber nicht außerhalb der vom kapitalistischen System gesetzten Zwänge. Die Freiheit, die man ihm zubilligte, war mit gesellschaftlicher Unfreiheit erkauft. Die Autonomie, die er genoß, war mit der sozialen Nutzlosigkeit seiner Produktion erkauft. Je stärker man den Kult des Einzelwerkes steigerte, umso deutlicher wurde die Isolation des Künstlers erkennbar und mit ihr die Tatsache, daß sein Schaffen stillschweigend Massenproduktion voraussetzte. - Die Produktivisten widersprachen dieser Arbeitsteilung. Anders als die Ästhetizisten sahen sie in der industriellen Produktion keine Bedrohung, sondern gerade die Chance, sie aus ihrer gesellschaftlichen Isolation herauszuführen, die Abkapselung im autonomen Werk aufzubrechen und das Ästhetische gesellschaftlich nützlich zu machen. Die künstlerische Arbeit sollte aus ihrer unzeitgemäßen Stellung befreit und ins Verhältnis zu ihrer Epoche - was in erster Linie hieß: zur Ökonomie - gesetzt werden. Unterschiedliche Wege wurden erwogen. Der englische Sozialreformer William Morris wollte den Widerspruch zwischen Kunst und Produktion durch die Universalisierung des Ästhetischen überwinden: er träumte davon, das Wirtschaftssystem nach ästhetischen Kriterien zu organisieren. Den russischen Konstruktivisten ging es um die Universalisierung des Sozialen. Sie wollten Kunst als separate Aktivität abschaffen und das Ästhetische in der Gestaltung einer neuen Gesellschaft aufgehen lassen. Am Bauhaus experimentierte man mit verschiedenen Lösungen: man begann mit der Rückführung der Kunst zum Handwerk und endete mit der Anpassung des künstlerischen Entwerfens an die Erfordernisse der industriellen Produktion. Dreierlei hatten die Vorschläge gemeinsam: sie wollten die Produktionsweise von Kunst verändern, das isolierte, nicht in die Gesellschaft eingebundene Kunstobjekt abschaffen und die Autonomie des Ästhetischen aufheben. Die Veränderung der künstlerischen Produktion sollte Teil der Veränderung der gesamten Gesellschaft sein."22

Die Multiples scheinen auf den ersten Blick das Erbe der Produktivisten angetreten zu haben: Wenn auch der Kunstmarkt als zuständiger Agent des Kapitalismus produktivistischer Arbeiten längst zu autonomen Werken ästhetisiert und sich die Kunst als weitgehend ungeeignetes Instrument zur Überwindung oder Veränderung des Kapitalismus erwiesen hatte, sollte wenigstens sie selbst aus ihrem elitären Dasein befreit und demokratisiert werden, indem ihre Produktion effektiviert und sie damit allen zugänglich würde. Diesen Anspruch zu verwirklichen verstand Karl Gerstner als Ausgangspunkt der Edition MAT. Er schrieb 1968: "Es ist doch heute so, daß Kunst praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet. Und das zu ändern ist zwar nicht nur, aber eben auch: eine Preisfrage. Wie kommt einer in den Besitz von Kunst, der sich knapp einen Volkswagen leisten kann? ... Wie sind so viele Originale herzustellen, daß sie jedem Interessierten zugänglich sind?"23

Gerstners Frage sollte eine Antwort in der Produktionsweise der Multiples finden. An die Stelle der Reproduktion trat die Multiplikation, weil statt einzigartiger Kunstwerke und ihren geringerwertigen Abbildern einander ästhetisch äquivalente Objekte als Originale hergestellt werden sollten. Sich industriellen Verfahren anzunähern, die den gesellschaftlichem Stand der Produktivkräfte markierten, gelang jedoch allenfalls zeichenhaft: "[Selbst] wenn der Wunsch nach Einbeziehung von industrieller Produktion besteht, so ist diese für die Herstellung von Unikaten gar nicht und für die Multiples nur selten benutzbar. Die Industrieapparatur, auf Massenproduktion angelegt, lässt sich für mittelgroße Auflagen (bis 500 Exemplare) nicht rentabel benutzen."24 Noch ein Multiple wie Joseph Beuys‘ Intuition , eine flache Holzkiste mit Bleistiftlinien und einem Schriftzug des Künstlers auf dem Boden, dessen unlimitierte Auflage etwa 12.000 Exemplare erreichte, wurde in Handarbeit hergestellt. Andere Objekte kombinierten industriell vorgefertigte mit handgearbeiteten Teilen: Richard Hamilton bediente sich für The Critic Laughs einer handelsüblichen elektrischen Zahnbürste; der Letraset-Schriftzug (der das Emblem der Firma Braun imitierte) das daran montierte Gebiss und schliesslich auch das Etui waren ausnahmslos aufwendige Sonderanfertigungen.25

Nur in wenigen Fällen waren weitergehende Adaptionen an industrielle Verfahren möglich. Unken, Krankenwagen, Mühle von Katharina Fritsch ist ein in 1.000 Exemplaren aufgelegtes Set aus drei Singles, die nach den gleichen Methoden und aus dem gleichen Material gepresst wurden wie jede andere Schallplatte auch. Umgekehrt bedienen sich Künstler gelegentlich listig der industriellen Massenfertigung, indem sie für Installationen und Readymades aus deren Produkten auswählen und zusammenstellen - so wenn Rirkrit Tiravanija bei seiner Rucksackinstallation die nötigen Utensilien und Zutaten für einen Ausflug mit einem thailändischen Reisgericht als Picknick zusammenstellt und den Käufern die heikle Entscheidung überlässt, ob und wann ihr Appetit grösser ist als das ästhetische Vergnügen an einem durch den künstlerischen Kontext fetischisierten Objekt, wenn Otmar Hörl für die Evolution für Fanatiker grosse Platten Kunstrasen schneiden lässt und auf einen Sockel setzt oder Günther Uecker an ein Holzbrett zwischen zwei Nägel einen Hammer hängt und dem in unlimitierter Auflage bis heute angebotenen Multiple den instruktiven Titel Do It Yourself gibt.
An Gerstners zitierter Äusserung wird jedoch zugleich die ästhetizistische Spur der Multiples erkennbar. Wenn der Kunstmarkt auch der Kunst längst ihren Warencharakter unabhängig von den zugrunde liegenden Intentionen nachgewiesen hatte, hielt er gleichzeitig ihre Isolation von der gesellschaftlichen Produktion aufrecht, indem er im Kult um die Individualität der Künstler und die Originalität der Objekte seine Geschäftsgrundlage formulierte, der sich auch die Mutiples nicht entziehen konnten. Mehr noch: Gerstners Forderung, Originale in Serie und damit zu billigen, allgemein bezahlbaren Preisen herzustellen, weist darauf hin, dass für ihn weniger der gesellschaftliche Status der Kunst und die Kategorien des Kunstmarktes zur Debatte standen, sondern vor allem Modalitäten der Distribution.

Mit dem Multiple wurde der Versuch gemacht, serielle Herstellungsverfahren in der Kunst anzuwenden und mit den ästhetischen, wert- und preisbildenden Kategorien des Kunstmarktes zu verbinden. Von vornherein wurde darauf verzichtet, den Mechanismen der kapitalistischen Verwertung zu entgehen oder die Fiktion autonomer Kunst aufrecht zu erhalten. So gab sich das Multiple in einer eigentümlichen affirmativen Figur unmittelbar dem Kunstmarkt anheim, der sich nicht auf eine Vermittlerrolle beschränkte und seinerseits zum Auftraggeber und oft genug zum Coproduzenten der Objekte wurde. Verdankte sich schon Munaris Scultura di Viaggio der Initiative der Edizioni Danese, hatte Spoerri die an den Collectionen der Edition MAT beteiligten Künstler von der eigentlichen Produktion ihrer Arbeiten weitgehend entlastet, so gibt es auch heute noch kaum ein Multiple, dessen Herstellung und Vertrieb nicht von vornherein durch Galerien, Editionen oder Verlage gesichert wäre. In Allianz mit seinem Markt entwickelte sich das Multiple zu einer Kunstform, die "am Kunstobjekt festhielt, also die Vorstellung von Kunst als Besitz stützte und damit das Fortbestehen der Institution »Kunst« garantierte."26
Die bewusste Affirmation der Multiples an den Kunstmarkt führte allerdings nicht dazu, dass eine Kunst entstand, die sich seinen Setzungen bedingungslos hätte anpassen können. Gerade ihre serielle Fertigung liess sie als geeignetes Medium erscheinen, in verschiedenen Varianten den gesellschaftlichen Ort und die Funktionen der Kunst unter der Massgabe ihrer Reproduzierbarkeit gleichsam von Innen zu analysieren. Ihre Paradoxien finden dabei Entsprechungen in den Widersprüchlichkeiten der Multiples. Durch inszenierte Grenzfälle können die tradierten Kategorien in Frage gestellt werden, wobei die Serialität eine wechselnde, doch stets massgebende Rolle spielte: Wenn Rob Scholte keines der 20 Exemplare von Venice gemalt hat - warum kann er dennoch als ihr Autor gelten? Wenn nur alle 18 Schachteln von Thaddeus Strodes I‘m a Leadbox zusammengelegt das Bild Daredevils ergeben - sind dann die einzelnen Kisten Multiples oder bloss Teile eines zerschnittenen Werks? Wenn George Brechts Water Yam ihren Käufern kleine Happenings vorschlug - waren diese dann die Kunst oder als Objekt die Schachtel mit den Karten? Wenn jede Kinetic Box von Jesus Raphael Soto den anderen Exemplaren der selben Edition zum Verwechseln gleicht - wie kann sie dennoch ein Original sein? Und wenn umgekehrt alle einzelnen Köpfe von Tobias Stimm sich erkennbar voneinander unterscheiden - macht sie das nicht trotz ihrere seriellen Herstellung zu Originalen?

Die Antworten auf solche Fragen nach der Autorschaft oder Originalität der Multiples stellen sich stets neu. Die serielle Herstellung allein reicht offenbar nicht aus, damit den einzelnen Arbeiten ihre Originalität verloren geht. Statt dessen erweist sich, dass solche Qualitäten abhängig sind von Zuschreibungen, die sowohl Produzenten we auch Rezipienten treffen, ohne dass die Stücke dafür durch ihre Materialität oder die Art der Anfertigung garantieren müssten. Damit sind sie abhängig von Definitionen, die wechseln können je nach der Bedeutung, die sie inhaltlich im einzelnen spielen sollen.


Das Multiple als Original

Gebräuchlich ist ein Begriff vom Original, der vorzugsweise an Werken der Malerei exemplifiziert wird und sich an der materiellen Einzigartigkeit des Bildes, seiner Unterscheidbarkeit zu allen anderen Arbeiten, seiner singulären Geschichte und meist seiner eigenhändigen Fertigung durch einen Künstler orientiert. Es sind dies zugleich die Qualitäten, die die Echtheit eines Werkes ausmachen. Reproduktionen gleich welcher Art können keine dieser Eigenschaften aufnehmen, sie sind im besten Fall als Kopien selbst dem Status des eigenständigen Originals nahe oder techniscg oder handwerklich gefertigt blosse Abbilder, mit einem Wort: sie sind dem Original nicht gleichwertig.
Dass der Kult des Kunstmarktes um das Original diese augenfällige Definition zunächst bestätigt, kann ihre Schwachstellen schon deswegen nicht verdecken, weil er selbst sie einst mitformuliert hat. Es schien eine Differenzierung zwischen dem Original und seinen im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelten technischen Reproduktionen notwendig zu sein, weil sich der Status letzterer gegenüber ihren Vorbildern im Vergleich zu den schon vorher bekannten Verfahren der handwerklichen Vervielfältigung anders darstellte. Galt der Stecher noch als Interpret des Werkes, weil er es bis in jedes von ihm bemerkte und berücksichtigte Detail händisch nachzeichnete, konnten mit der Photographie alle Details berücksichtigt werden, ohne dass der Photograph sie bemerken musste. Sie war darüber hinaus in der Lage, ihren Objekten Ansichten abzugewinnen, die dem blossen Auge nicht zugänglich waren, und schliesslich konnten die gewonnenen Abbilder in stets gleichbleibender Qualität und beliebiger Menge produziert werden im Gegensatz zu Stichen, wo der Verschleiss der Platten die Anzahl der Abzüge begrenzte.

Stillschweigend wird bei der oben genannten Definition des Originals seine technische Reproduktion als Gegenstück vorausgesetzt, doch in dem Moment, da die Kunst selbst sich auch nur der einfachsten handwerklichen reproduktiven Methoden bedient, wird dieser Antagonismus aufgeweicht, wie sich etwa an Graphiken erkennen lässt: Hier konnte man sich weder an der Einmaligkeit der Arbeiten orientieren, die der Herstellungsprozess weitgehend ausschloss, noch war die eigenhändige Arbeit des Künstlers durch den gesamten Produktionsprozess erforderlich, die sich für die Malerei zumindestens postulieren liess. Um dennoch von Originalgraphiken sprechen zu können, werden andere qualitative Kriterien herangezogen: Für die Sammler zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das entscheidende Merkmal einer Originalgraphik, dass ihr Sujet vom Künstler eigens für das Blatt erfunden und nicht einem bekannten Gemälde nachgestochen war.27 Als später dann die technischen Druck- und Reproduktionsverfahren entwickelt wurden, geriet die Anwendung der tradierten graphischen Methoden - Kupferstich, Holzschnitt, Radierung - und die Bearbeitung der Druckplatten durch den Künstler selbst zur Voraussetzung originaler Graphik. Etwa um diese Zeit begann Whistler als einer der ersten, mit limitierten Auflagen und und eigenhändiger Signatur und Numerierung der Blätter zu arbeiten, um sich so gegen die Massenproduktion von Bildern abzusetzen. Diese Mittel der Ästhetisierung fand schnell Verbreitung, wurde schliesslich aber auch bei Lithographien, Photographien und Siebdrucken angewendet. Spätestens hier wird klar, dass auch bei Graphiken Originalität keine gleichsam natürlich oder selbstverständlich über die Materialität der Blätter definierbare Egenschaft ist, sondern auf Zuschreibung beruht.

Damit sind auf dem Kunstmarkt mindestens drei Definitionen kurrent, die aus verschiedenen Momenten der Produktion künstlerischer Objekte Merkmale ihres Originalcharakters machen: die der Malerei stellt die Einmaligkeit der Arbeit in den Mittelpunkt; bei Graphiken definiert sich Originalität entweder über die Bilderfindung oder anhand der Herstellungsmethode. In allen drei Fällen dient meist die Signatur und bei Graphiken die Numerierung als Signum der Originalität. Als vierter und kleinster gemeinsamer Nenner ist der Originalbegriff des Urheberrechtes zu nennen, der sich an der Autorschaft der Werke orientiert und damit auf die einzige Kategorie reflektiert, die allen zuvor genannten Definitionen gemeinsam ist. Entscheidend ist hier die im Material erkennbare Spur des Künstlers - und deshalb können von die von seiner Hand gearbeitete Repliken eines Objektes durchaus Originale sein, nicht aber Readymades oder Objets trouvées.

Wenn die Originalbegriffe und ihre Kriterien abhängig davon sind, welche Gegenstände künstlerischer Produktion als Originale erscheinen sollen, lässt sich generalisierend oder anhand der Objekte nicht klären, ob Multiples Originale sind oder sein können, sondern nur über die Intentionen der Künstler und Kunden einerseits und andererseits anhand der Problemstellungen, auf die die Objekte antworten. Mit anderen Worten: Produktiver als die Frage, ob ein bestimmtes Multiple ein Original sei, stellt sich jene, warum und unter welchen Bedingungen Originalität für Multiples in Anspruch genommen wurde.
Für Spoerri und Gerstner stand ausser Frage, dass die Multiples der Edition MAT Originale sein mussten. Spoerri schrieb 1959 in einem Brief an Josef Albers: "(Ich kam) auf die idee, auch gegenstände objekte in einer ausgabe zu multiplizieren. und zwar ohne ihren gehalt den sie als originale besitzen zu zerstören oder zu verändern. es handelt sich also um eine ausgabe von multiplizierten originalwerken. und nicht um reproduktionen. (...) die ganze ausgabe würde einen einheitspreis haben, das heisst jedes werk würde 50 $ kosten, ganz egal von wem. das ist der soziale standpunkt dieser ausgabe, die den wert der einzelnen werke nicht in einen kommerziellen wert verwandeln will."28 Und knapp zehn Jahre später formulierte Karl Gerstner: "Ein Kunstwerk - eine geistige Arbeit - muß zwar exklusiv sein: so exklusiv als möglich, denn das ist sein Kriterium. Aber es muß jedermann zugänglich sein - wie jede geistige Arbeit. (...) Jede Edition eines (graphischen, f.t.) Werkes splittet dessen Originalität in so viele Teile wie die Auflagenhöhe. Wenn er (der Käufer, f.t.) das Blatt 31/100 hat, sichert ihm die Unterschrift des Künstlers einen 1/100stel Anteil Originalität zu. (...) Die Objekte (der Edition MAT, f.t.) sind nicht einem 'Original' nachgebaut, sondern selber original. Sie sind nicht nur vervielfältigt, sondern in sich selber vielfältig."29

Originale Kunst jenen Schichten zugänglich zu machen, die sich knapp einen Volkswagen leisten konnten, war für Spoerri und Gerstner damit eine soziale, eine politische Aufgabe, und diese weniger wohlhabenden Kunden sollten nicht mit Surrogaten, mit Reproduktionen abgespeist werden, denen Originalität allenfalls in Bruchteilen nachzuweisen ist. Mit den von Spoerri formulierten Prinzipien der Edition MAT waren jedoch einige traditionelle Kriterien zur Bestimmung der Originalität von Kunstwerken nicht anzuwenden: Wenn die Objekte nicht die persönliche Handschrift der Künstler tragen durften, war ausgeschlossen, dass sie Exemplar für Exemplar eigenhändig angefertigten. Wenn andere als die üblichen künstlerischen Vervielfältigungstechniken zur Herstellung angewandt werden sollten, konnte man sich der Verfahren der Originalgraphik nicht bedienen. Und die serielle Herstellung schliesslich verhinderte, dass die Einzigartigkeit des Objektes zum Kriterium seiner Originalität werden konnte.

Die Anwendung dieser Kriterien führte dazu, dass es für Spoerri und Gerstner ohne Bedeutung war, ob den Objekten selbst ihre Originalität als Kunstwerk eingeschrieben war: Sie sollte sich als quasi geistiger Gehalt manifestieren. Schon deswegen war es notwendig, dass die einzelnen Multiples beweglich, veränderbar oder am Material von den anderen Exemplaren der gleichen Edition unterscheidbar waren. Damit allein wären die Arbeiten jedoch kaum ausreichend als Originale legitimiert, weil sie als Objekte oft auch von fremder Hand beliebig wiederholbar gewesen wären, ohne dass der unmittelbare Anschluss an die an die originale Intention des Künstlers notwendig gewesen wäre. Um der damit möglichen kommerziellen und ästhetischen Entwertung der Kunstwerke zu entgehen, bediente man sich bei der Edition MAT der für serielle Kunst klassischen Mittel: Durch Signatur und Numerierung (oft genug auf Klebeetiketten, die von den Künstlern bogenweise unterschrieben wurden) konnten die Herausgeber die Multiples als gültige Originale autorisieren lassen und verschafften damit jedoch der persönlichen Handschrift des Künstlers ein Residuum.

In ganz reiner Form liessen sich Spoerris Prinzipien und die Idee der 'Originale in Serie' ohnehin nicht verwirklichen: Mit Man Rays Spirale und dem Objet indéstructible vertrieb die Edition MAT immerhin zwei Multiples, die einem Original nachgebaut waren. Andere Arbeiten aus der ersten Collection kommen wiederum den von Gerstner abgelehnten Verfahren der graphischen Reproduktion und ihrer quantitativ gesplitteten Originalität bedenklich nahe: Jesus Raphael Sotos Objekt ohne Titel aus der Collection von 1965 besteht aus einem Nylondraht, der senkrecht vor einen hellen Hintergrund mit schwarzen, ebenfalls senkrecht gezeichneten Streifen gespannt ist. Bewegt man sich vor dem Objekt, verdeckt der Faden zuweilen eine der dunklen Linien, zuweilen scheint er selbst mit den hellen Partien des Hintergrunds zu verschmelzen. So spektakulär der optische Effekt sich präsentiert, den Betrachtern wird hier kaum eine grössere Vielfalt geboten als sie sich bei grösseren Graphiken und daneben auch bei Plastiken, Architekturen, Bildern usw. finden lässt: Hier wie dort verändern sich die Erscheinungsweisen der Objekte je nach Standpunkt, ohne dass sich dadurch eine ideale Ansicht ermitteln liesse. Die Vielfalt dieses Objektes findet sich damit in seiner wechselnden Erscheinung und nicht in seiner Materialität oder der durch Eingriffe des Betrachters zu verändernden Struktur.
Genau darauf zielen einige Arbeiten von anderen Op-Art-Künstlern der Edition MAT: Den Betrachtern wird angeboten, nicht bloss seine Position vor dem Objekt zu verändern, sondern dessen Module innerhalb eines vom Künstler bestimmten Rahmens immer wieder neu zu arrangieren. Zu Hans Arps Nach dem Gesetz des Zufalls gehören 21 weisse und in drei verschiedenen Formen ausgestanzte Pappplättchen und ein Plexiglasrahmen mit schwarzem Hintergrund. Wird die Plexiglasplatte vom Rahmen entfernt, lassen sich auf dem Bildträger die kleinen Pappen in beliebige Anordnungen bringen und dann als Bild an die Wand hängen. So entstehen aus materiell völlig gleichartigen Objekten strukturell stets verschiedene Ausführungen, die sich nie mit letzter Genauigkeit ein zweites Mal legen liessen, ohne dass jedoch andererseits eine Ausführung das Primat vor allen anderen behaupten könnte. Gerstner schrieb zu Arps Arbeit: "Von diesem Bild existiert kein Original, das einzigartig ist oder das den künstlerischen Einfall für allemal fixiert. Das Original ist die Idee: das heißt die Idee von der Veränderlichkeit."30

Formal Arps Arbeit nicht unähnlich wird der Zufall von Arman bei seinen Poubelles anders organisiert, für die der Künstler 1964 Abfall aus Kölner Papierkörben lose in flache Plexiglaskästen füllen liess.31 Zwar macht die gleiche äussere Form und die Art ihres Inhalts die einzelnen Stücke als Exemplare einer Edition erkennbar; doch anhand der Zusammensetzung ihrer Füllungen lassen sie sich voneinander unterscheiden und werden so zu Unikaten. Deren qualitative Unterschiede jedoch sind irrelevant: für die Gleichwertigkeit aller Poubelles sorgt die Gleichartigkeit des Inhalts - es ist Müll, der sich seinerseits der industriellen Massenfertigung verdankt. Als so vordergründig wie die unikaten Materialien erweist sich auch das Vermögen der einzelnen Stücke, Spuren ihrer Geschichte aufzunehmen: Jeder Ortswechsel oder auch nur die Laune der Besitzer kann dazu führen, dass die Plastiktüten, zerissenen Briefumschläge und zerknüllten Zigarettenschachteln in neue Unordnungen fallen und so überdeutlich mit einem erkennbaren Reflex auf solche Veränderungen reagieren - doch was hier seinen Niederschlag findet, ist nicht die Geschichte, sondern die permanente Aktualisierung des Objektes: unwiederholbar löscht jede Veränderung die vorherige Erscheinung des Stückes aus, so dass nicht nur die Poubelles untereinander, sondern auch die verschiedenen Zustände eines einzelnen Stückes in seiner Zeit austauschbar sind. Und noch ein drittes lässt sich an Armans Arbeit erkennen: Liesse man sich darauf ein, dass die Autorisierung durch Signatur und Numerierung für den ästhetischen Gehalt des Mutiples sowenig Relevanz hätte wie Form und Mischung der Abfälle in den einzelnen Poubelles , so liessen sich unbegrenzt und auch ohne Beteiligung des Künstlers gleichwertige Repliken herstellen unabhängig davon, dass die Auflage auf 100 Exemplare begrenzt war und die einzelnen Stücke signiert sind; es macht dabei keinen Unterschied, ob man Arman heute um den Inhalt seines Papierkorbes bittet, seinen eigenen Büroabfall oder sorgfältig gesammelte und zerrissene Formulare und Verpackungen aus den sechziger Jahren in einen Plexiglaskasten schüttet. Mit den Poubelles reflektiert Arman so auf drei der oben genannten Eigenschaften, die dem Original gemeinhin zugesprochen werden. Die Poubelles werden allen diesen Kriterien gerecht, doch so, dass ihnen gerade die Originalität entbehrlich wird.

Jean Tinguely ging über den Ansatz der vorher genannten Künstler hinaus. Boten diese zwar veränderliche, doch letztlich in sich geschlossene Werke an, war sein Multiple von vornherein unvollständig: Constante, das sowohl mit der Collection von 1959 wie der von 1964 vertrieben wurde, besteht aus nicht mehr als einem kleinen, auf eine Platte montierten Elektromotor, dessen senkrecht gestellte Achse mit einer kleinen Klemme versehen ist. Um dem für sich recht uninteressanten Objekt seinen ästhetischen Reiz abzugewinnen, muss der Betrachter selbst tätig werden und an der Klemme einen kleinen Gegenstand befestigen. Wird der Strom eingeschaltet, verschwimmen dessen feste Konturen vor einem dunklen Hintergrund zu schemenhaften Rotationsfiguren. Die Vielfalt dieses Multiples besteht damit nicht in seiner Erscheinung als Objekt, sondern in seiner vervielfältigenden Kraft: Auf dem Motor als Sockel thronend werden alltägliche Gegenstände zu ephemeren Originalen transformiert.

An den Beispielen lässt sich der eigentümliche Zwiespalt erkennen, der das theoretische Konzept von den Objekten der Edition MAT trennte. Spoerris und Gerstners Idee war es gewesen, dem klassischen unikaten Kunstwerk ein Konkurrenz zu verschaffen, die billiger produziert und verkauft werden konnte, ohne deswegen von geringerem ästhetischen Wert zu sein. Die Multiples folgten diesem Modell insofern trotz serieller Fertigung der künstlerische Entwurf in der Komposition der Objekte sichtbar blieb und damit Merkmale eines geschlossenen Werkes behauptet wurden. Doch obwohl schon die beiden Herausgeber Originalität zum geistigen Wert immaterialisiert hatten, liess sich an den Objekten ablesen, dass auch dies Modell sich als überflüssig erweisen könnte, wenn es einem elitären Kunstbegriff verpflichtet blieb, der allein im Künstler den aktiven Schöpfer sah, der die Regeln der Rezeption formulierte und den Käufern damit kaum mehr als ein ästhetisches Spiel mit einigen Variablen zur Verfügung stellte.

An dieser Stelle setzte Beuys an, den weniger die Frage der Originalität von Multiples interessierte als ihre Brauchbarkeit als Instrumente sozialen und politischen Handelns: "Jede Edition hat für mich den Charakter eines Kondensationskerns, an dem sich viele Dinge ansetzen können. (...) Ich bin interessiert an der Verbreitung von physischen Vehikeln in Form von Editionen, weil ich an der Verbreitung von Ideen interessiert bin. Die Objekte sind nur verständlich im Zusammenhang mit meinen Ideen. Was in meiner politischen Arbeit geschieht, hat dadurch, daß ein solches Produkt vorliegt, bei den Menschen eine andere Wirkung, als wenn es nur mittels geschriebener Worte ankäme."32 Hatte sich der politische Einsatz der Edition MAT auf den Versuch beschränkt, die elitären gesellschaftlichen Strukturen des Kunstbesitzes durch Effektivierung von Produktion und Vertrieb demokratisch zu reformieren, ohne dabei die Objekte selbst als Träger politischer Ideen einzusetzen, sah Beuys die Möglichkeit, mit seinen Multiples Erfahrungen konkret vermitteln zu können. Dabei ist deren Originalität als Kunstgegenstand von geringerer Bedeutung als die Idee, in der das Objekt seinen Ursprung hat; entsprechend gehen eine Reihe seiner Multiples direkt auf politische Aktionen und andere Ereignisse zurück oder wurden bei solchen Gelegenheiten eingesetzt. Sie sollten weder als Kunst eine Aura der Unberührbarkeit tragen noch Träger ästhetischer Werte sein, sondern benutzt werden, wobei sich die Art des Gebrauchs von Fall zu Fall unterscheidet. Eine Verwendung für Intuition zu finden, mit etwa 12.000 Exemplaren wohl das Multiple mit der höchste Auflage, blieb ganz den Käufern überlassen: Die flache Holzkiste, auf deren Boden mit Bleistift die mathematischen Symbole für Strecke und Strahl sowie der Schriftzug des Titels gezeichnet sind, kann ebensogut zur Aufbewahrung von Papieren genutzt werden (die Kiste hat ziemlich genau die Abmessungen des Formates DIN A 4), wie sie leer einen Raum zur Entfaltung von Ideen im vom Künstler postulierten Spannungsverhältnis von geschriebenen Wort und Objekt bietet. Bei Everess II 1 dagegen war eine detaillierte Anweisung dem Deckel der Holzkiste aufgedruckt, die zwei mit Filz- bzw. Papieretiketten beklebte Sodawasserflaschen enthält: "Sender beginnt mit der Information, wenn "II" ausgetrunken und der Kronverschluss möglichst weit weggeworfen ist". Beuys kommentierte später die Frage, ob die Aufforderung ernst gemeint sei: "Eigentlich ist sie ernst gemeint, aber ich wußte natürlich, daß es viele Leute nicht tun. Ich finde das Objekt richtig nur, wenn es getan wird, vorher ist es noch nicht in Aktion gewesen. Es ist ja in diesem Objekt die Angabe für eine kleine Aktion enthalten, die man selbst ausführen soll. Und wenn die Leute diese Aktion gemacht haben und bereuen das, dann müssen sie ja weitergehen und müssen eine weitere Aktion machen und sich wieder so eine Flasche besorgen, und da hätte ich nichts gegen!"33 Beuys zwingt den Rezipienten von Everess II 1 damit eine verwickelte Denkfigur auf: Das Multiple, das sich als unveränderliches Original fetischisieren liesse, wird erst'richtig', wenn es nicht als materielles Substrat des künstlerischen Gehalts verstanden wird: Der wird nur freigesetzt, wenn der konkrete Gebrauchswert des Objektes realisiert, die Flasche Everess getrunken und vielleicht durch ein Pendant ersetzt wird. Dass dieses Sodawasser offenbar vom Markt verschwunden ist, täte der Aktion auch heute keinen Abbruch, wenngleich dabei inhaltlich Veränderungen einträten: Die Flasche einer anderen Marke liesse sich ebensogut als Ersatz verwenden (nicht zuletzt, weil die Etiketten der zweiten Flasche mit Filz überklebt und damit unerkennbar sind) und würde das Multiple solcherart aktualisieren und die Aktion als wiederholbare erkennbar machen.

Noch ein weiteres Moment ist Beuys bei seinen Multiples wichtig: Er versteht sie als Medien, die eine andere als die übliche monodirektionale Kommunikation zwischen Sender und Empfänger, zwischen Künstler und Rezipienten ermöglichen: "Sehen Sie, alle Leute, die so ein Objekt haben, werden sich auch weiterhin dafür interessieren, was an dem Ausgangspunkt, von dem die Vehikel ausgelaufen sind, sich weiter entwickelt, sie werden immer wieder beobachten, was macht derjenige jetzt, der die Dinge produziert hat. Ich bleibe auch dadurch mit Menschen in Verbindung. (...) Es gibt auch Querverbindungen, Querschläger zwischen den Leuten. Der eine sagt: Ja, ich habe so eine Flasche, der andere hat so eine Kiste und der dritte sagt, ich habe was gehört von politischen Aktionen, und so kommen alle möglichen Begriffe zusammen, und daran bin ich interessiert, daß sehr viele Begriffe zusammenkommen."34 Multiples erwiesen sich für Beuys als geeignete Mittel, um solche Kommunikationen zu installieren, die nicht an ein Objekt gebunden waren, sondern sich zeitlich und räumlich erweiterten und fortsetzten. Am nächsten kam dieses Modell seiner Verwirklichung mit dem Projekt 7000 Eichen anlässlich der documenta 7 1982 in Kassel, bei dem Merkmale von Aktion und Multiple miteinander verschmolzen. Die Bäume wurden jeweils mit einer Basaltsäule zusammen über das Stadtgebiet verteilt eingepflanzt; ihre Beschaffung und die gärtnerischen Arbeiten hatte Beuys finanziert, indem er signierte Zertifikate für 500 DM pro Baum verkaufte. Obwohl als privater Kunstbesitz praktisch unbrauchbar wurde mit den Bäumen als Einzelstücken wie insgesamt als Monument ein solcher Ausgangspunkt geschaffen, mit dem die Baumkäufer bis heute verbunden bleiben und der stetigen Veränderungen unterworfen bis heute für politische, ästhetische und administrative Diskussionen sorgt.

Kommunikationskanäle ohne ein solches öffentliches Ereignis als Zentrum eröffnete Beuys mit seinen Postkarten: Mit den wie Ansichtskarten auf Karton gedruckten oder aus Holz, Filz oder Eisenblech gefertigten Stücken bedient er sich eines Mediums, das wie kaum ein anderes für schnelle und billige Kommunikation stand und für den beiläufigen Gruss aus dem Urlaub ebenso genutzt wurde wie es politischen Bewegungen dazu diente, ihren Forderungen massenhaften Nachdruck zu verleihen. Beuys moderiert das kommunikative Netz, indem er Materialien und Motive der Karten bestimmt, die auf Aktionen oder Ereignisse verweisen können, Graphiken oder oder Photographien reproduzieren oder Neuschöpfungen innerhalb seiner Zeichen- und Materialikonographie sind. Eine Gebrauchsanweisung ist hier nicht notwendig, und wenn auch die Karten sich ebensogut sammeln und als Kunst fetischisieren lassen, so ist von Beuys eher ihre Benutzung intendiert, damit die Käufer im ganz wörtlichen Sinne selbst zu Sendern werden. Doch obgleich ihnen die Karten Ram für die Darlegung eigener Ideen bieten, lässt sich die Präsenz des Künstlers weder hier noch bei einem der anderen Multiples löschen oder übersehen: "Bei Beuys erfolgt die Absicherung der (metaphorischen) Bedeutung ... durch ihre Einbettung in eine persönliche Symbolwelt. Die Bedeutung der Zeichen wird durch die Bindung an die Biographie des Künstlers fixiert, also narrativ abgesichert: etwa durch die berühmte Ursprungslegende, in der Tataren den abgestürzten Stukaflieger Beuys mit Filz und Fett vor dem Erfrieren retten. (...) Der Künstler bleibt der Mittelpunkt des Werkes, jedes Zeichen muß ausgehend von ihm verstanden, jede Bedeutung zu ihm zurückgeführt werden. (...) Es ergibt sich ein tautologisches Verweissystem, das fortwährend seine eigene Schlüssigkeit zu bestätigen scheint und dem Rezipienten keine Wahl läßt als das Vorformulierte zu akzeptieren. Aller populistischen Rhetorik zum Trotz hat Beuys‘ Werk also eine recht autoritäre Struktur, die auf der asymmetrischen Relation zwischen dem, der Zeichen erfindet und Bedeutungen setzt und jenen basiert, die sie deuten müssen, indem sie sich seine Lebens und Werkgeschichte erzählen."35

Macht sich also bei Beuys Multiples Originalität bemerkbar, indem durch die Ikonographie der Zeichen und Materialien stets auf den Künstler und seine politischen und ästhetischen Ideen verwiesen wird, ohne dass die Objekte selbst deswegen Originale in einem herkömmlichen Sinn sein müssten, wurde bei den Multiples des Fluxus auf das eine wie das andere verzichtet: Sie sollen exemplarisch ihre Wirkung entfalten und durch Irritation und Verfremdung von Alltagserfahrungen und -wahrnehmungen die Rezipienten ermuntern, ihre eigene Kreativität unbelastet von Diskussionen um deren künstlerischen Gehalt zu entfalten. Wer von ihnen dabei Originale erhoffte, sah sich schnell getäuscht: Lässt La Jocconde als Titel einer Arbeit von Robert Filliou wenigstens noch ein Plagiat oder eine ironische Verfremdung des berühmten Bildes erwarten, wird die Mona Lisa vom Künstler boshaft und überrraschend aktualisiert: als abwesende Putzfrau, die dem Betrachter Schrubber, Plastikeimer und Feudel hinterlassen hat nebst einem Schild: "Bin in 10 minuten zurück. Mona Lisa". Vom Original zeigt sich auch bei längerem Warten keine Spur; stattdessen wird der Raum merklich profaniert, in dem das Ensemble installiert ist - ästhetische Weihe verträgt sich schlecht mit dem Hinweis, dass eigentlich einmal sauber gemacht werden müsste. Ähnlich respektlos verfuhr Filliou bei den Poussière de Poussière : Hier findet der Käufer in kleinen Schachteln unscheinbare und etwas dreckige Wattebäusche, über deren Entstehung ein beiliegendes Photo aufklärt: Der Künstler hatte damit von den Rahmen einiger Meisterwerke im Louvre und im New Yorker MoMA den Staub gewischt - doch trotz grösstmöglicher Nähe zu anerkannten Originalen will sich an der Watte selbst keine Spur von Originalität finden lassen.

Aktionsrelikte wie Poussière de Poussière sind als Fluxus-Multiples selten; stattdessen empfehlen sich die Arbeiten meist als Gebrauchsgegenstände oder -anleitungen, mit denen die Käufer ihren Alltag in zuweilen absurder Weise verfremden oder gleich selbst eine Aktion oder ein Happening durchführen können: Lässt Benjamin Patterson die morgendliche Waschung zum Event geraten, indem eine kleine Schachtel mit dem eindrucksvollen Titel Instruction No. 2 nichts weiter enthält als ein Stück Seife und ein Papierhandtuch mit der Aufforderung 'Please wash your face.', so stellte George Brecht in Water Yam auf kleinen Kärtchen einen ganzen Katalog von Aktionen zusammen, die sowohl von Fluxus-Aktivisten gelegentlich öffentlich aufgeführt wurden, aber auch für den Hausgebrauch gedacht waren: Die Vorschläge reichen dabei vom einfachen 'Move Through the Place' bis zu aufwendigen Partituren wie dem Candle-Piece for Radios , bei dem unbegrenzt viele Akteure mit einigen Kerzen, Radiogeräten und Ereigniskarten eine durch organisierten Zufall strukturierte Performance aufführen. Ben Vautier liefert bei seinem Aufruf zum Ikonoklasmus mit der Total Art Match Box das nötige Equipment gleich mit - einer Schachtel Streichhölzer war ein Etikett aufgeklebt: "USE THESE MATCHS TO DESTROY ALL ART - MUSEUMS ART LIBRARY‘S - READY - MADES POP - ART AND AS I BEN SIGNED EVERYTHING WORK OF ART - BURN - ANYTHING - KEEP LAST MATCH FOR THIS MATCH"36 Vautiers totalisierender Kunstbegriff, mit dem er kurzerhand alles signierbare zu Kunst erklärt hatte, war keinesfalls die Ausnahme; vermittelt findet er sich auch in solchen Multiples wie George Brechts Sonnensalz , das eine Huldigung an Marcel Duchamp, den 'Merchand du Sel' und Ahnherren solcher Überlegungen enthält37 und dessen Methode weiterführt. Hatte dieser bei der Auswahl seiner Readymades immerhin noch antiästhetische Massgaben zugrundegelegt, wählte Brecht als Kriterien Zufall und Missverständnis, wenn er handelsüblichen Packungen Kochsalz einen Zettel mit seiner Signatur und einer Anekdote aufklebt: "From the anthology of misunderstandings / 31 III 69 Went today to get beer and things at A. HEYDUCK, Barbarossaplatz, Düsseldorf / After getting the sausages, the woman said something I did‘nt understand, and I answered: "Das ist alles, glaub‘ ich" This is the box she gave me / George Brecht"38 Wie bei den Readymades Duchamps ist auch bei Brechts Sonnensalz ein Original weder erhalten noch von Bedeutung, und überdies wurden für das in unlimitierter Auflage produzierte Multiple mindestens zwei verschieden gestaltete Packungen Salz verwendet. Es entfaltet seine Bedeutung als exemplarisches Objekt, das von den Käufern gar nicht unbedingt bei einer Aktion verwendet werden soll (obwohl es ihnen freisteht, das Salz in der Küche zu verbrauchen), sondern ihnen statt dessen nahelegt, die 'Anthology of Misunderstandings' zu ihrer Sache zu machen, der Sammlung die Relikte von fehlgegangenen Verständigungen beizufügen und so den eigenen Alltag ironisch zu ästhetisieren.

Eine ganz andere Strategie verfolgten die PopArt: Hier wurde meist darauf verzichtet, den Rezipienten Handlungsmöglichkeiten anzubieten, denn sie waren ohnehin schon tätig: Als Konsumenten sahen sie sich den Massenwaren und -medien gegenüber, denen die PopArt ihre Zeichen und Formen entnahm. Anders als Duchamp bei seinen Readymades, anders auch als die Fluxus-Künstlern verarbeiteten sie die im Alltag vorgefundenen Objekte nicht als Material, sondern imitierten und verfremdeten allein deren äussere Form. Damit waren schon die Vorbilder dezidiert alles andere als Originale, und so erzeugte die PopArt im besten Fall Reproduktionen von Reproduktionen. Die seriell gebauten und bedruckten Kisten von Andy Warhols Brillo Soap Pads konnten weder selbst als Originale erscheinen noch ihren Vorbildern diesen Status verleihen. Doch selbst wenn Signatur und limitierte Auflage eine Reihe seiner anderen Arbeiten den Gesetzen des Kunstmarktes folgend als Kunstobjekte markierten, blieben sie als Originale dennoch zweifelhaft; Duchamps Aussage, dass es bei seinen Readymades eine Replik ebensogut täte, gilt auch für Warhols Multiples. Dass beide dennoch als Originale gehandelt werden, dass auch bei Warhols Serigraphien deutliche Preisdifferenzen zwischen auf Leinwand gedruckten Exemplaren und solchen auf Papier bestehen, ist ein deutliches Indiz dafür, dass der Markt noch solcher Kunst Originalität zuschreibt, die vom Ansatz her darauf verzichten kann.

Angesichts der Methode der PopArt war es konsequent, dass einige Künstler auch eigene Werke als Vorlagen für Multiples verwendeten. So haben Claes Oldenburgs Miniature Soft Drum Set , Emerald Pill und die Geometric Mouse Scale C und Scale D ihre Vorbilder in anderen Arbeiten des Künstlers. Doch selten ist das Verwirrspiel zwischen Original und Kopie so virtuos betrieben worden wie von Roy Lichtenstein mit dem Brushstroke und dem unbetitelten Multiple dazu: Dessen Vorlage ist die aufs zeichenhafte reduzierte, ins überdimensionale vergrösserte und mit der handwerklichen Akribie eines guten Kopisten bis ins Detail ausgeführte Aufnahme des spontanen Pinselhiebs der abstrakten Expressionisten, der bei diesen unmittelbarer Ausdruck künstlerischer Originalität war. Dem Brushstroke gegenüber, den Lichtenstein zudem gleich mehrfach als Gemälde ausführte behauptete das Multiple seinen souveränen Status schon durch seine Materialität: Sind die Gemälde mit allen kanonischen Eigenschaften dieser künstlerischen Technik ausgestattet, die ihnen Musealität und Dauerhaftigkeit verleihen und sie als Originale erscheinen lassen können, lässt das Multiple diese Qualitäten vermissen: Als Lebkuchenrelief mit schwarz-gelbem Zuckerguss scheint es eher in die Küchen privater Haushalte zu gehören, um dort den Angriffen von Fliegen und naschhaften Kindern statt der Kunstkritik ausgesetzt zu sein. Und trotz serieller Fertigung und der Reproduktion eines bestimmbaren Vorbildes findet sich zuletzt beim Multiple doch eine Spur Originalität - bei kaum einem anderen Backwerk wird Originalrezepturen eine solche Bedeutung beigemessen wie bei Lebkuchen.

Bezog sich PopArt auf die äusserliche Erscheinung der Ware und damit auf ohre Zeichenhaftigkeit, richtete sich der Minimalismus auf deren Herstellungsweise: "(Er) situierte sich ... fast von Anfang an innerhalb der Technologie der Industrieproduktion. Die Fertigung von Objekten nach Plänen bedeutete, daß diese Pläne im Minimalismus den Status von Konzepten erhielten, was die Möglichkeit eröffnete, eine bestimmte Arbeit zu kopieren und somit die Grenze dessen zu überschreiten, was man stets als die Nichtreproduzierbarkeit des ästhetischen Originals gesehen hatte. In einigen Fällen wurden diese Pläne zusammen mit dem Originalobjekt oder sogar an dessen Stelle verkauft, und tatsächlich ließen Sammler gewisse Stücke aufgrund der Pläne reproduzieren. In anderen Fällen waren es die Künstler selbst, die die Reproduktionen machten, entweder indem sie von einer bestimmten Arbeit mehrere Versionen auflegten - multiple Originale gewissermaßen -, wie etwa die zahlreichen Glaskuben von Morris, oder indem sie, wie Alan Saret, ein heruntergekommenes Original durch ein zeitgenössisches Remake ersetzten."39 Auf den ersten Blick mag überraschen, dass die Minimalisten sich des Multiples nicht weit ausführlicher bedienten - so zählt der 'International Index of Multiples' von Sol LeWitt zehn, von Donald Judd sieben und von Carl André gar nur ein Multiple.40 Tatsächlich dürfte dafür entscheidend sein, dass den Künstlern wenig an den Zwecken lag, zu denen andere Kunstrichtungen Multiples eingesetzt hatten: Weder wollten sie mit Originalen in Serien den Kunstbesitz demokratisieren noch Objekte als Vehikel zur nonverbalen Vermittlung politischer Ideen nutzen, und auch eine Reflexion der Warenwelt lag nicht in ihrem unmittelbaren Interesse. Serialität hatte in ihren Werken vor allem als strukturelles Prinzip Bedeutung und weniger als inhaltliches Moment. Es scheint keinen Unterschied zu machen, ob ein Objekt für Installationen, als Einzelstück oder in Serie gefertigt wurde: Weder ergibt sich eine besondere Verweisstruktur zwischen den einzelnen Exemplaren einer Auflage noch werden sie leichter handhabbar (Judds Folded Meters bestehen mehreren verschieden starken Stahl- und Eisenplatten, die jeweils einen Meter im Quadrat messen), und oft finden die Multiples in unikaten Werken der Künstler ihre Vorlage: Sol LeWitts 1969 von Multiples Inc. herausgegebenes Untitled (2/2 Two Two Part) etwa hat seine deutlichen Beziehungen zu der 1968 auf der documenta gezeigten Installation 47 3-part variations of 3 different kinds of cubes : Wurden hier 47 Permutationen dreier senkrecht übereinander stehender Würfel gezeigt, kommt das Multiple mit zwei Variationen zweier Würfel aus.

In theoretischer Hinsicht erwies sich der Einsatz der Minimalisten als ausserordentlich fruchtbar und einflussreich - die nahegelegte Rezeption orientierte sich jedoch an ästhetizistischen Massgaben. Die künstlerische Arbeit fand isoliert und autonom statt, und obwohl zur Herstellung der Objekte meist industrielle und damit die üblichen Methoden der gesellschaftlichen Produktion genutzt wurden, stellte sich das tradierte Verhältnis zwischen Kunstwerk und Betrachter her: Statt Berührbarkeit und evozierten die Objekte Distanz, statt der Aktivierung des Betrachters Kontemplation. Insofern nimmt die Reaktion einiger minimalistischer Künstler wenig Wunder, als Anfang der neunziger Jahre anlässlich einer Ausstellung im Guggenheim Museum der italienische Kunstsammler Graf Panza nach den in seinem Besitz befindlichen Objekten und Plänen verfuhr und - statt die Arbeiten nach New York verschiffen zu lassen - ohne weitere Autorisierung Repliken anfertigen liess: Vehement reklamierten sie, dass weder die Objekte selbst noch die Pläne ausreichten, um den Originalen gleichwertige Repliken herzustellen, da bei der Produktion der Zufall das Erscheinungsbild unvorhergesehen verändern könne, damit die Materialität des einzelnen Werkes Bedeutung habe und sich die notwendige Authentizität deshalb allein vom Künstler zuschreiben lasse.


Das Multiple als Ware

In den Multiples der Minimalisten wird der Bedeutungswechsel antizipiert, der sich ab der Mitte der siebziger Jahre durchsetzen sollte, als abzusehen war, dass die mit der seriellen Kunst verbundenen Hoffnungen weitgehend Illusionen gewesen waren. Weder hatte der Kunstbesitz demokratisiert werden können noch hatte die Kunst selbst sich demokratisieren lassen: Trotz niedriger Preise und hoher Auflagen erreichte das Multiple nie Massenwirksamkeit und fand nur selten Käufer in jenen Schichten mit geringen Einkommen, denen es nach Karl Gerstners Vorstellung den Zugang zur modernen Kunst eröffnen sollte. Darüber hinaus erwies sich das Publikum meist als unwilliger Coproduzent: Anwendung und Konsumption als Methode zur Freisetzung des ästhetischen Wertes von Kunstobjekten waren offenbar nicht zu vermitteln, und die Wiederverkaufspreise gaben späterhin jenen recht, die aus Beuys‘ Everess-Flaschen nicht getrunken und Robert Fillious Anweisungen zur Brandstiftung keine Folge geleistet hatten. Auch die Unabhängigkeit vom Kunstmarkt hatte sich nicht als praktikabel erwiesen. Spoerri bediente sich seiner neben dem als Verkaufsinstrument nur mässig brauchbaren Katalog, indem er die erste Collection der Edition MAT über Ausstellungen in Galerien verschiedener europäischer Städte zu verkaufen suchte und später resigniert den Vertrieb in die Hände eines erfahrenen Kunsthändlers legte; die Fluxus-Künstler und Joseph Beuys konnten sich auf Produzenten, Galerien und Vertriebe wie Wolfgang Feelischs VICE-Versand in Remscheid, Willem de Ridders Flux-Shop in Amsterdam, George Maciunas‘ Mail-Order in New York, Klaus Staecks Galerie und Edition in Heidelberg stützen (ohne dass damit für den Absatz der Stücke garantiert gewesen wäre); PopArt schliesslich war in dem Versuch, den Kunstmarkt zu instrumentalisieren ohnehin von Beginn an Galerien gebunden.

In Auflagen und damit für den Verkauf produziert war den Multiples ihr Warencharakter von vornherein eingeschrieben, zu dem viele traditionelle Kunstformen wie Zeichnungen, Bilder oder Skulpturen als Unikate eine Distanz zumindestens behaupten konnten: "The art object is the non-practical, non-mass-produced thing, the product of free, creative genius rather than a mechanical following of instructions. It is made for its own sake, not for money. The autonomy of the artwork expressed detachment from the claims of practical life; but, at the same time, its ownership requires both money and the time made possible by money, and so signified financial success along with cultural superiority."41 Die Verkaufspreise und Auktionserlöse für solche Werke zeigen an, dass ihr Warencharakter eher symbolischer Natur ist, weil die Genialität des Künstlers, die Echtheit des Werkes in Geld sich ohnehin nicht aufwiegen lassen. Die postulierte Unbezahlbarkeit macht die Kunstwerke zum Gegenstück der Konsumgüter und zum Residuum der Qualitäten, die diesen längst verlorengegangen sind: Authentizität, Unmittelbarkeit, Originalität.

Diese Illusion und die der Unabhängigkeit der Kunst von den Verwertungsmechanismen des Marktes ist bei den Multiples aufgegeben worden. Statt dessen erwiesen sie sich als geeignetes Instrument, um den Warencharakter der Kunst zu untersuchen. Drastisch setzte Piero Manzoni seine Analyse des Kunstmarktes ins Werk: "In Merda d‘Artista , einer Edition von neunzig Konservendosen, die mit jeweils dreißig Gramm seiner Exkremente gefüllt waren und zum aktuellen Goldpreis verkauft werden sollten, [demonstrierte Manzoni] ...; daß der Markt, wenn er erst einmal von einem Künstler mit Haut und Haaren Besitz ergriffen hatte - aus Scheiße Gold zu machen vermag. Nicht der Inhalt der Dose, obgleich "Lebensspur" und "Ausdruck" im wörtlichst vorstellbaren Sinne, sondern allein ihr Etikett interessierte; nicht die falsche Unmittelbarkeit von Aktionismus und "body-art", sondern die im Warentausch vollbrachte Abstraktionsleistung war gefragt. Manzoni führt - wenn er Geruch und Aussehen seiner Scheiße in den Konservendosen neutralisiert - eine der Grundoperationen des Marktes vor, der nämlich, um einen Tausch zustande zu bringen, einen von der materiellen Beschaffenheit des zu tauschenden unabhängigen Tauschwert etablieren muß."42 - Fast überflüssig zu sagen, dass der Preis von Merda d‘Artista auf dem Kunstmarkt auch von der Goldfixierung unabhängig geworden ist - längst ist Manzonis Scheisse pro Gramm teurer als das Edelmetall.

Als Manzoni die Endprodukte seines Konsums nach Gewicht in Konservendosen füllte, wählte er damit eine der ikonischen Formen der Warenwelt, und wenn er, wie Germer schreibt, ihren Inhalt der unmittelbaren Wahrnehmung entzieht, zeichnet er damit eine Trennung nach, die allen Dosen und Schachteln in den endlosen Regalen der Supermärkte eigen ist: "Die Ware ... ist zusammengesetzt aus Verpackung und Inhalt. Selten wird sie der Verpackung wegen gekauft und meist wegen des versprochenen Inhalts: Nicht die Tetrapak-Schachtel ist Ziel des Konsums, sondern die Milch darin. Eine Ware ein Bedürfnis befriedigen zu lassen erfordert also zweierlei: um sie ge- oder verbrauchen zu können, muss sie ausgepackt werden. Wenn so die Verpackung Signum für Massenfabrikation und Austauschbarkeit der Ware ist, muss jene durchbrochen, entfernt und jedenfalls verändert werden, um diese für den individuellen Verbrauch zuzurichten. Dieser Akt der Zerstörung, der Veränderung ist erst die Erfüllung des Erwerbs, das kleine Glück der Konsumtion."43 Genau an dieser Stelle setzen eine Reihe von Multiples an: Wenn Andy Warhols Brillo Boxes ein Paket Waschmittel, Robert Gobers Cat Litter eine Tüte Katzenstreu oder Sylvie Fleurys Vital Perfection den Karton eines Diätpräparates imitieren, stellen sie sich als künstlerische Objekte dar, die Konsumgütern in ihrer äusseren Erscheinung bis ins Detail gleichen. Die Fetischisierung der Ware und die der Kunst gehen eine seltsame Allianz ein: Die Versprechen der Verpackungen werden enttäuscht - die Schachteln sind leer, Gobers Tüte Katzenstreu ist ein bemalter massiver Block Gips. Die Zerstörung der Verpackungen setzt keinen Gebrauchswert frei, sondern mindert allenfalls den ästhetischen und den Wiederverkaufswert der Objekte. Es scheint, als würde hier der Topos von der funktionslosen Kunst aufgenommen und so bis zur Kenntlichkeit banalisiert, dass das Kunstobjekt dem Konsumgegenstand gegenüber schlecht abschneidet: Nicht nur kostete Warhols Brillo-Box mehr als ein Paket des Waschpulvers im Supermarkt - man konnte damit auch nicht seine Wäsche waschen. Kunst, die wertfrei sein soll, ist vor allem frei von einem unmittelbaren Gebrauchswert.

Die Reflexion auf den Warencharakter der Kunst wurde nicht nur anhand der Objekte vorgenommen; sie erfasst auch den Handel selbst. Die Tatsache, dass materielle Beschaffenheit und Tauschwert eines Objektes sich nicht gegenseitig bedingen, hatte Spoerri noch ausgedehnt, indem er auch den Namen des Künstlers als gebräuchliche preisbildende Kategorie des Kunstmarktes unberücksichtigt liess und bei der ersten Collection der Edition MAT einen einheitlichen Preis für alle Arbeiten festlegte. Die Willkürlichkeit auch dieses Verfahrens wurde noch unterstrichen anlässlich der Verkaufsausstellung in der londoner Galerie One. Auf der Einladung zur Eröffnung wurde angekündigt: "[During the private view] there will be a free lottery by machine which will enable spectators to win any work at a price of double or nothing."44 - Für die PopArt war die Verquickung von Kunst- und Supermarkt Teil des Konzeptes. Wenn sie durch Mimikry und Billigkeit Kunstobjekte zu Konsumgegenständen entzauberte, lag es nahe, sich auch in den Verkaufsbedingungen anzugleichen: Thomas Lawson schreibt über Claes Oldenburgs 1961 in der New Yorker Lower East Side eingerichtetes Geschäft: "The Store verkörperte die populistische Idee, Kunst für einfache Leute und auf einfache Weise zugänglich zu machen - man ging einfach in den kleinen Laden und kaufte irgendetwas - das war das Wichtige. ... Es war der Versuch, Kunst zu machen, die zum Vergnügen des Wiedererkennens einlud, Kunst, die in ihrem Zusammenhang etwas zu sagen hatte. The Store ahmte seine Umgebung nach, er übersetzte die Realität der schäbigen Straßen in eine Arena fröhlicher Repräsentation. in der die schonungslos gemütliche Ausstellung handgemachter Nachbildungen von massenproduzierten Waren eine Aura der Hoffnung erzeugte."45 Der Schritt vom Klein- zum Grosshandel war daher nicht mehr als konsequent: Der American Supermarkt in der Galerie Bianchini war komplett vom Drehkreuz am Eingang bis zur Kasse eingerichtet, und nicht nur Kunst war im Angebot, sondern auch Konsum: Unter Campbell‘s-Serigraphien stand eine Pyramide der originalen Suppendosen - handsigniert von Andy Warhol. Wer drei solcher Büchsen um 18 $ und damit um einiges teurer als üblich erstand, musste sie zuerst als Kunst statt als Lebensmittel erkannt haben. Der Kauf selbst wurde damit zum ersten und entscheidenden Schritt der Rezeption.

Dieser performative Akt ist keineswegs unmittelbar an Verkaufssituationen wie in der Galerie One oder dem American Supermarket gebunden: Die dreissig Exemplare des 1992 produzierten Multiples Verzichte von Heiner Blum gleichen sich äusserlich vollkommen - es sind kleine Metallkästchen mit einem roten Klingelknopf, den zu drücken keine weiteren Folgen hat. Was sie voneinander unterscheidet, ist der veränderliche Preis: Er erhöht sich mit jedem verkauften Exemplar um 6 %. Das erste Stück wurde für DM 200 verkauft, das letzte wird DM 1083,67 kosten. Modellhaft werden die Bedingungen des Kunstmarktes in Szene gesetzt und der Preis selbst dabei zum festen Bestandteil des Objektes: Die Seltenheit oder genauer: die Verfügbarkeit des Kunstobjektes entscheidet über den Preis, den die Käufer zwar nicht bestimmen können, aber durch den Kauf steuern.

Multiples sind gängige Ware auf dem Kunstmarkt geworden, und was Spoerri ahnte, ist dabei mit einiger Verspätung unvermeidlich eingetreten: "in zehn jahren", schrieb er in einem resignierten Brief anlässlich einer Verkaufsausstellung der ersten Collection, "wird diese Kollektion wie alles andere sehr teuer werden, und was ich wollte wird untergegangen sein."46 Die Arbeiten der Edition MAT, der Fluxus- und PopArt-Künstler wurden zu teuer gehandelten Ikonen; dass sie als Instrumente zur Demokratisierung gescheitert sind, fällt dabei kaum ins Gewicht - um so weniger auch deshalb, als mit den neuen Arbeiten daraus Konsequenzen gezogen wurden: An die Stelle des strategischen Einsatzes trat der operative - Multiples sind zu einem Medium geworden und zu Auflagenobjekten im Sinne des Wortes. Die Massgaben, unter denen das Multiple seinerzeit angetreten war - Serialität als wesentlicher Bestandteil des Inhaltes, Reflexion auf die anderen Stücke einer Auflage, ästhetische Gleichwertigkeit aller Exemplare - sind zu Variablen geworden, derer sich die Künstler nach Bedarf bedienen können. Die Gestalt der Objekte hat sich ebenso diversifiziert wie ihr Vertrieb: Multiples werden anlässlich von Ausstellungen angefertigt und können dort unikate und Arbeiten der Konzeptkunst vermittelnd begleiten; sie dienen dem Fundraising ebenso wie Kunstvereine sie als Jahresgaben anfertigen lassen, und die meisten Arbeiten werden bis heute in Kooperationen von Verlegern und Künstlern produziert. Noch weniger als für die Multiples der ersten Generation lässt sich für die neueren seriellen Arbeiten ein gemeinsamer Nenner, eine gemeinsame Interpretation finden. In einer Zeit, wo tradierte Gattungsgrenzen ohnehin längst fragwürdig geworden sind, liegt darin eher eine Chance als eine Gefahr.


1 Thomas Lawson: Bonbons und andere Annehmlichkeiten: Eine fürsorgliche Erotik. In: Claes Oldenburg: Multiples 1964-1990. Ausstellungskatalog Frankfurt/München/Wien 1992, p. 15
2 Dierk Stemmler, Schellmann 1992, p. 541
3 Zdenek Felix: Das Jahrhundert des Multiple. In: Das Jahrhundert des Multiple, Ausstellungskatalog Hamburg 1994, p. 9
4 Linda Albright-Tomb: Introduction. In: The Great American Pop Art Store. Multiples of the Sixties. Katalog zur Wanderausstellung des University Art Museum, California State University. Santa Monica 1997, p. 7
5 Erika Lederman: Multiplication. In: Art Monthly 2/1995, p. 21
6 Katalog der Firma Danese, zitiert nach: René Block: Bemerkungen zur Ausstellung, in: Multiples - Ein Versuch die Entwicklung des Auflagenobjektes darzustellen. Ausstellungskatalog, Berlin 1974, p. 22
7 René Block, op.cit., p. 23
8 Eine ausführliche Geschichte der Edition MAT findet sich im Katalog zur Ausstellung "Produkt: Kunst!" (Solothurn, Bremen, Gera, Koblenz 1997/98). Die Dissertation Katerina Vatsellas ("Edition MAT. Daniel Spoerri, Karl Gerstner und das Multiple") war zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Artikels noch nicht erschienen.
9 Karl Gerstner: Was darf Kunst kosten? In: ars multiplicata, Ausstellungskatalog Köln 1968, p. 29
10 Brief Barbara Kulickes an Constance W. Glenn und Linda Albright-Tomb; zitiert nach: The Great American Pop Art Store. Multiples of the Sixties, p. 44
11 Interview Katerina Vatsellas mit Daniel Spoerri, abgedruckt in: "Produkt: Kunst!", Ausstellungskatalog 1997/98, p. 47
12 Brief Denise Renés vom 3.10.1997
13 ebenda
14 Jeanne Vilardebo: art . In: Connaissance des Arts, Januar 1968, p. 62
15 Dieser Ästhetisierung von Kunstobjekten bediente sich auch Hein Stünke, als er in einem Ausstellungskatalog der Edition MAT Sammler aufforderte, früh zu kaufen, falls sie Wert auf eine niedrige Auflagennummer ihres Exemplars legten. Vgl. das Interview Katerina Vatsellas mit Daniel Spoerri, abgedruckt in: "Produkt Kunst!", Ausstellungskatalog 1997/98, p. 47
16 Thomas Lawson, op.cit., p. 17 f.
17 vgl. Arturo Schwarz: Marcel Duchamp und das Multiple, p. 40 f. In: Multiples. Ein Versuch, die Entwicklung des Auflagenobjektes darzustellen. Ausstellungskatalog Berlin 1974. Vgl. auch Arturo Schwarz: The complete Works of Marcel Duchamp, New York 31995, Vol. 1, p. 47: "Prompted by the desire to duplicate his originals, Duchamp was the artist who invented what is today called the multiple."
18 Marcel Duchamp: Apropos of "Readymades", in: The Essential Writings of Marcel Duchamp, hrsg. von Michel Sanouillet und Elmer Peterson, p. 141. London 1975. Kapitalen im Text
19 Besonders eindrucksvoll ist die Rekonstruktion der Fountain gewesen (die allerdings als Readymade von Duchamp in nur einem Exemplar angefertigt wurde): Eine erste Replik war 1951 in New York produziert und von Duchamp wie die verlorene Vorlage mit "R. Mutt 1917" signiert worden, ebenso eine weitere um 1953 in Paris, um zugunsten eines Freundes von Duchamp versteigert zu werden, eine dritte, die von fremder Hand signiert ist, hatte 1963 Ulf Linde in Stockholm für das Moderna Museet angefertigt. Für seine Edition liess Arturo Schwarz dem Vernehmen nach die Produktion einer italienischen Fabrik für Sanitäkeramik für einen Tag umstellen. Die Porzellanbecken trugen aussen die die Signatur der Fountain von 1917 und waren ausserdem auf der Rückseite numeriert und mit 'Marcel Duchamp, 1964' signiert. Wie genau die Repliken sind und wie sehr sie den früheren Rekonstruktionen ähneln, steht dahin; die Masse der Fountain von 1917 sind unbekannt. - Die Geschichte und die Editionen der Fountain im besonderen und den anderen Readymades im allgemeinen stellt Arturo Schwarz ausführlich dar; für die Fountain siehe Arturo Schwarz 1995, Vol.2, .p. 648 ff
20 Otto Hahn: Entretien Marcel Duchamp. - L‘Expreß, vol. 12, No. 684, Paris 23 Juli 1964, p. 22-23. Zitiert nach Stauffer 1973, p. 49
21 Walter Benjamin: Gesammelte Werke, Band I/2, Frankfurt 1991, p. 436
22 Stefan Germer: "Das Jahrhundertding", in: Das Jahrhundert des Multiple. Ausstellungskatalog Hamburg 21995, p. 18 f.
23 Karl Gerstner: "Was darf Kunst kosten?", in: ars multiplicata, Ausstellungskatalog Köln 1968, p. 29
24 René Block, op. cit., p. 20, Ausstellungskatalog Berlin 1974
25 Zur Produktionsgeschichte von The Critic Laughs vgl. ausführlich Block, op. cit.
26 Stefan Germer, op.cit., p. 34
27 Nur am Rande sei darauf hingewiesen, wie problematisch eine solche Auffassung war: Zum einen wurde Kunstwerken damit ein eigentümlicher Sonderstatus gegenüber anderen Gegenständen der materiellen Welt eingeräumt, der sie selbst als Objekte der Kunst untauglich machte. Zum zweiten wurde den Nachstechern ihr anerkannter Rang als Interpreten von Kunst abgesprochen. Zum dritten ging eine solche Auffassung darüber hinweg, dass auch schon von der Entwicklung technischer Reproduktionsmethoden Künstler ihre Arbeiten auf deren graphische Reproduktion hin anlegten.
28 zitiert nach: Katerina Vatsella: "Produkt: Kunst!" Die Edition MAT. In: "Produkt: Kunst!" Ausstellungskatalog 1997/98, p. 13
29 Gerstner, op. cit., p. 29
30 Gerstner, op. cit., p. 30
31 Auch die Poubelles greifen zumindest formal auf eine frühere Arbeit des Künstlers zurück: 1961 hatte Arman den Inhalt des Mülleimers von Jim Dine in einen Plexiglaszylinder gefüllt.
32 Bernd Klüser, Jörg Schellmann: Fragen an Joseph Beuys. In: Joseph Beuys - Multiplizierte Kunst. Werkverzeichnis Multiples und Druckgraphik 1965-80. Hrsg. von Bernd Klüser und Jörg Schellmann. München 1980. unpaginiert
33 ebenda
34 ebenda
35 Germer, op.cit., p. 59
36 Orthographie wie im Original.
37 Diesen Hinweis verdanke ich Wolfgang Feelisch.
38 Absätze sind durch Schrägstriche wiedergegeben. Orthographie wie im Original. - Nur ein weiteres Stück dieser von Brecht und Robert Filliou geplanten 'Anthologie von Mißverständnissen' wurde als Unikat aus Medikamenten realisiert, die Brecht versehentlich in einer Apotheke ausgehändigt bekommen hatte.
39 Rosalind Krauss: Die kulturelle Logik des spätkapitalistischen Museums. In: Texte zur Kunst, Nr. 6, Juni 1992, p. 133
40 Zum Vergleich: Der 'International Index of Multiples' führt für Arman 27, für Claes Oldenburg 30, für George Brecht 38 und für Joseph Beuys mehr als 160 verschiedene Multiples auf.
41 Paul Mattick: Mechanical Reproduction in the Age of Art. Arts Magazine, September 1990, p. 68
42 Germer, op.cit. p. 46
43 Jonas M. Fehler/Erich F. Jettini: Der Grüne Punkt - Wir machen mit! Hamburg 1996, p. 7
44 In: Harry Ruhé: Multiples et cetera. Amsterdam 1991, p. 82
45 Thomas Lawson, op.cit., p. 10 f.
46 Katerina Vatsella, op.cit. p.16