Auf dass die Anatomie k/ein Schicksal sei...
Die feministische Theoretikerin Luce Irigaray


DAS NEIDISCHE GESCHLECHT

"Man meint, dass die Frauen zu den Entdeckungen und Erfindungen der Kulturgeschichte wenig Beiträge geleistet haben, aber vielleicht haben sie doch eine Technik erfunden, die des Flechtens und Webens. Wenn dem so ist, so wäre man versucht, das unbewusste Motiv dieser Leistung zu erraten. Die Natur selbst hätte das Vorbild für diese Nachahmung gegeben, indem sie mit der Geschlechtsreife die Genitalbehaarung wachsen liess, die das Genital verhüllt. Der Schritt, der dann noch zu tun war, bestand darin, die Fasern aneinander haften zu machen, die am Körper in der Haut staken und nur miteinander verfilzt waren. Wenn Sie diesen Einfall als phantastisch zurückweisen und mir den Einfluss des Penismangels auf die Gestaltung der Weiblichkeit als fixe Idee anrechnen, dann bin ich natürlich wehrlos." (Sigmund Freud, Die Weiblichkeit, 33. Vorlesung, 1933)

Ueber Luce Irigaray schreiben heisst, Freud wieder zu Wort kommen zu lassen, es heisst, einmal mehr wiederholen, was er sich über "das Rätsel der Weiblichkeit" zusammengewebt hat. Um Luce Irigaray zu verstehen, muss man ihre Absage an Freud ins Auge fassen. Das tat sie nicht aus diesen spiessig-miefigen Gründen, die noch heute viele aufgeklärte Bürger und Bürginnen dazu verführen, Freud zu verlachen, weil er die zentrale Funktion des Sexus behauptet hat. Nein, Irigaray nimmt Freud ernst, so ernst, wie ein Psychoanalytiker und Schüler Jacques Lacans Freud nehmen würde. Noch ernster aber ist ihre Freud-kritische Habilitationsschrift Speculum de l'autre femme. Weil sie es wagte, Freud als Frau und Feministin genauestens zu lesen und zu hinterfragen, wurde sie prompt von Anhängern Lacans aus dem Département de Psychoanalyse de Vincennes ausgeschlossen.

Schon Freud waren die "Emanzipierten" suspekt: "Hinter diesem Penisneid kommt nun die feindselige Erbitterung des Weibes gegen den Mann zum Vorschein, die in den Beziehungen der Geschlechter niemals ganz zu verkennen ist und von der in den Bestrebungen und literarischen Produktionen der "Emanzipierten" die deutlichsten Anzeichen vorliegen."
Irigarays ernste Freud-Lektüre destilliert im scheinbaren Unernst gewisser Passagen den Ernst der Sache schonungslos heraus. Sie liest Freuds Weiblichkeitsaufsatz, wie wenn es sich dabei um einen (bösen) Traum handelte, dessen verborgene Inhalte sie entschlüsseln müsste. Ihre komplette Aneignung des symptomatischen Deutens ist so erfrischend frech und subversiv, dass sie den Freudschen Diskurs ohne larmoyantes Geschrei gleichsam aus seinem Innern heraus ad absurdum führt und neue Möglichkeiten für eine Psychoanalyse ohne Sexismus eröffnet. So etwa wird bei ihr aus dem "Penisneid" das "Begehren nach dem Penis". Freuds "fixe Idee" vom Penisneid der Frau hat ihn schon zu Lebzeiten weiblichem Widerstand ausgesetzt, nicht nur von seiten "unserer Damen", wie Freud seine weibliche Anhängerschaft nennt, oder der "Kindermädchenanalytikerinnen" (Lacan), sondern auch von der "Emanzipierten" Karen Horney.
Während Freud bemerkte, dass gerade er als Mann es ist, der nicht sehr freundlich von und über Frauen spricht, verlor aus den Augen, dass die von ihm den Frauen unterstellte "Erbitterung" gegen den Mann womöglich ihre Berechtigung in der jahrhundertelangen Unterdrückung und im konsequenten Ausschluss der Frau aus dem System haben könnte. Seine patriarchalen Ansichten über die Frau kann man nicht als eine Form der Gesellschaftsanalyse interpretieren, wie dies immer wieder beschönigend vorgebracht wird. Historisch-soziale Analysen waren nicht seine Stärke. Er hat vielmehr die Diskriminierung der Frau psychologisch begründet und wissenschaftlich legitimiert. Der herrschenden "männlichen" Ordnung war er so unentrinnbar verhaftet, dass er sich zu einem Verdikt hat hinreissen lassen, das wohl kein Freudscher Versprecher ist: "Anatomie ist Schicksal" gibt heute noch Anlass zu heftigen Disputen unter Feministinnen und wird unter dem Begriff Biologismus diskutiert. Den Feminismus in der Einzahl jedoch gibt es nicht, da die Diskussion mittlerweile so differenziert und kontrovers ist, dass eine Einigung unmöglich scheint. Allen Richtungen gemeinsam ist dennoch das Engament für die Befreiung der Frau, mithin die politische Stossrichtung zur Ueberwindung bestehender, geschlechtlicher Machtverhältnisse. Die fundamentale Streitfrage lautet etwa: Sind die Konzepte "Frau" und "Weiblichkeit" naturgegeben oder lediglich Konstrukt, und in welchem Verhältnis stehen sie zur realen Frau? Als Antwort darauf unterscheiden die sex-gender-Konzepte in den USA etwa zwischen biologischem Geschlecht (sex) und der Geschlechtsidentiät (gender). Für andere ist die Annahme der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen nicht viel mehr als der Effekt diskursiver Tätigkeit und sie zielen auf die Subervertierung des Geschlechtsunterschieds. Anders die Französinnen, allen voran Luce Irigaray, die Vertreterinnen der Differenz-Theorie sind. Für sie besteht eine geschlechtliche Differenz zwischen Frauen und Männern in biologisch-anatomischer, psychischer, kultureller, sozialer und seit neuestem auch in ethischer und religiöser Hinsicht. Nach der 68er Revolte bildete sich vor allem im Kreis junger Psychoanalytikerinnen eine politische und theoretische Bewegung, die sich intensiv mit der strukturalistischen Psychoanalyse Jacques Lacans, den semiologischen Textabenteuer Roland Barthes und der poststrukturalistischen oder dekonstruktivistischen Verfahren Jacques Derridas auseinandersetzten. Diese Theorieszene, die sämtliche essentialistische und existentialistische Gedanken verwarf, erachtete die Sprache als Ort der Sinnstiftung: Die bestehenden kulturellen Denk- und Bedeutungssysteme werden als durch die Sprache strukturiert, mithin als symbolische Ordnungen verstanden. In diesem geistigen Klima gediehen auf seiten der feministischen Poststrukturalistinnen wie Luce Irigaray, Julia Kristeva, Hélène Cixous und Sarah Kofman besonders Ansätze um ein weibliches Sprechen/Schreiben. Schon in Speculum, vor allem aber in Das Geschlecht, das nicht eins ist, unternahm Irigaray den Versuch, wissenschaftliche Rede über das Objekt "Frau" in ein unmittelbares Objektsprechen - Irigaray nennt es Frau-Sprechen - zu verwandeln. Gemäss ihren Konzepten des Fliessens und der Lust poetisiert sie das Theoretisieren und desavouiert - nicht allen zur Freude - argumentative, "verständliche" Rede.
Mit den neueren Schriften, besonders seit der Ethik der sexuellen Differenz, setzt sich Irigaray dem Verdacht des Essentialismus aus, der ein weiterer Begriff der Feminismusdebatte ist. Als Essentialistinnen gelten diejenigen, die der Frau eine ihr eigene Wesenheit (Essenz) zuschreiben. Trotz Irigarays Allianz mit dem Poststrukturalismus, der die Dinge als Zeichen und nicht als Wesen untersucht und damit meilenweit von essentialistischen Ideen entfernt ist, deuten gewisse ihrer letzten Aussagen daraufhin, dass sie daran ist, die "wahre Natur" der Frau aufzudecken und aus dieser wieder jene mit sich und ihrem Geschlecht selbstidentische Person zu machen, deren Zerrüttung sie doch selbst ins Werk gesetzt hat. Kurzum: Irigaray droht nun hinter ihr eigenes, subversives Dekonstruktionsverfahren zu fallen und ein scheinbar neues, in Tat und Wahrheit aber altbekanntes Weiblichkeitsbild aufzurichten. Die Vorzeichen sind zwar positiv und in weiblichen Händen, die "Essenz" jedoch ist traditionelle "Männerwahrheit".


NUR EIN SPIEGEL
Die Sackgasse, in die Irigarays Weg heute führt, ist zum Teil die Konsequenz ihrer dualistischen Bestandesaufnahme, wie sie sie in Speculum entwickelt hat. Sie nennt unser Ordnungssystem eine Phallokratie, in der der Phallozentrismus oder Phallogozentrismus, wie Jacques Derrida sprachspielerisch Phallus und Logos ineinssetzt, Regie führt. Freud hat den Begriff des Phallus aus Mysterienkulten der Antike übernommen, die mittels des Bildes des erigierten Penis der Fruchtbarkeit huldigten. Der Phallus etabliert sich unter Jacques Lacan zum Zeichen des Begehrens, das nichts mehr mit dem realen Penis des Mannes zu tun haben soll. Irigaray jedoch vertritt dezidiert die Meinung, dass der Phallus als das Eine des Mannes zur männlichen Universalinstanz geworden sei. Der männliche Universalismus ist es aber, der, wie Irigaray deutlich macht, unter dem Deckmantel des Menschlichen, die Frau in Acht und Bann schlägt. Als Mensch gelte letztlich immer nur der Mann, wovon allein das Französische homme ein sprachliches Zeugnis ablegt.

Irigarays Rundumschlag, der mit Speculum erfolgt, richtet sich nicht nur gegen Freuds, und in dessen Nachfolge Lacans Theorien über die weibliche Sexualität, sondern auch gegen die abendländische Philosophie und Kultur. Die Weiblichkeitsentwürfe der Psychoanalyse stellen dabei ein Raster zur Verfügung, das Irigaray auf die Gesellschaft appliziert. Deshalb ist es interessant, ihre Lektüre Freuds und Lacans kurz zu resümieren, weil sich dadurch exakt nachzeichnen lässt, wie die Frau nur vom männlichen Blickwinkel aus gesehen und am männlichen Massstab gemessen wird. Wie Freud festhält, ist die Frau nicht, sondern wird sie erst durch den ihr fehlenden Penis. Das zu einer normalen Frau-Werden sei unendlich viel schwieriger als der Entwicklungsgang vom Knäblein zum Mann, denn die Frau muss sogar noch ihr Geschlecht wechseln. Zunächst ist nämlich das kleine Mädchen, das sich mit seinem kaputten Penis, sprich Klitoris, viel Lust verschafft, nichts anderes als ein kleiner Knabe, der mit seinem kleinen Penis die Libido pflegt. In dieser frühen, präödipalen Phase der infantilen Sexualtriebe herrscht noch nicht die genitale Sexualität der Erwachsenen mit der Opposition Penis/Vagina vor, sondern die Partialtriebe, die sich nacheinander in einer oralen, analen und phallischen Phase manifestieren. Die klitorale Lust des Mädchens ist eine Produktion der phallischen Phase. Und nun kommt der für beide Geschlechter so gravierende Einschnitt: Plötzlich wird mit einem Blick erfasst, dass die Klitoris dem Vergleich mit dem kleinen Penis des Bruders niemals standhalten kann, dass sie vielmehr verstümmelt und das Mädchen demzufolge kastriert ist. Und es merkt, dass auch die Mutter, von der es immer angenommen hat, dass sie im Vollbesitz des all-einzigen Penis ist, so kastriert ist wie es selbst. Grund genug, wenn auch nicht der einzige, die Mutter zu hassen und auf den Penis neidisch zu werden. Es wendet sich, um den Penis zu erlangen, dem Vater zu und tritt so in das oedipale Dreieck, in der die einst so geliebte Mutter zur bösartigen Rivalin wird. Ueber dieser kindlichen Begierde schwebt jedoch das Damoklesschwert des Inzestverbots. Um zur "Normalfrau" zu werden, hilft nur noch eines: die sofortige Beendigung der Selbstbefriedigung an der Klitoris, die ja, gemessen am Penis und dessen Gegenpart, der Vagina, nicht "das Richtige" ist. Sie muss sich stillschweigend in ihr "passives Triebschicksal" fügen, von dem sie erst durch den Ehemann, der ihr endlich einen Phallus, sprich ein Kind machen kann, erlöst wird. Im Gegensatz zum Knaben muss das Mädchen, weil es bereits kastriert ist, nicht unter der Kastrationsdrohung des Vaters leiden, deren Druck jedoch den Effekt hätte, zur kulturellen Leistung zu befähigen. Deshalb ist die kulturelle Leistung der Frau das Flechten und Weben, weil es der Natur, wie Freud im Einleitungszitat brav folgert, so nah ist. Die oedipale Phase führt zum Verzicht auf die primäre Mutterbindung und zur Unterordnung unter das Gesetz des Vaters. Auch nach Lacan befähigt erst die Erfahrung dieser Trennung und des Mangels zum Eintritt in die symbolische Ordnung der willkürlichen Zeichensprache.
Diese binären Oppositionen von Vagina/Penis respektive Kastration/Phallus und Frau/Mann enthüllen eine Struktur, die in den Augen Irigarays die Philosophiegeschichte des ganzen Abendlands bestimmt. Freuds "Rätsel der Weiblichkeit" ist symptomatisch für das schwarze Loch "Frau", das es philosophisch-spekulierend zu stopfen gilt. Darauf spielt der Buchtitel Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts an. Das weibliche Geschlecht funktioniert als Speculum, als Instrument zur organischen (und seelischen) Introspektion einerseits, als Spekulationsobjekt des Mannes andererseits, der die Frau lediglich als eigenes, negatives Spiegelbild konstruiert. Das "Weibliche" ist nur soweit das Andere, als es das verkehrte Selbe, das Gleiche des Mannes ist; es ist also immer Inszenierung, Show. Eine "Andere", wie sie das Denken der sexuellen Differenz erlaubt, in der Unterschiede, ohne sie immer wieder auf binäre Oppositionen zurückzuführen, erkannt und anerkannt würden, besteht Irigaray zufolge in unserer symbolischen Ordnung immer noch nicht.
In dieser Gleichsetzng psychoanalytischer mit gesellschaftlicher Schemata liegt jedoch der Haken der Sache. Irigaray kritisiert ein Weiblichkeitsbild, das von bahnbrechenden, aber völlig sexistischen Psychoanalytikern entworfen wurde. Die Veränderungen, die sich in den letzten Jahren auf allen Ebenen vollzogen haben und die zum Teil - ganz im Zuge der postmodernen Pluralisierung - eine eindeutige Geschlechtsidentität verwischt haben, berücksichtigt sie nicht. Der frauendiskriminierende Geschlechtsantagonismus scheint ihrer Theorie zufolge für alle Länder und alle Menschen die gleiche Gültigkeit zu haben und seit neuestem sogar für alle Desaster, vor allem die ökologischen Katastrophen, verantwortlich zu sein. Für das reibungslose Funktionieren sei dabei der Frauentausch die wichtigste Basis: Unter Negation der Mutter wird der väterliche Name und die väterliche Herkunft der Frau bei der Heirat gegen den Namen und die Abkunft des Mannes eingetauscht und der Nachkommenschaft übergeben. Eine solche Annahme, die auf einen globalen Sexismus und auf die kollektive Identität aller Frauen setzt, wird heute von vielen Feministinnen heftig attackiert. Sie sehen darin einen erneuten Universalismus, der imperialistische und rassistische Konsequenzen haben kann.

DAS GESCHLECHT, DAS NICHT EINS IST
Irigarays Dekonstruktion der abendländischen Kultur streicht heraus, dass "die weibliche Sexualität immer von männlichen Parametern ausgehend gedacht worden" sei. Da die Sexualkonstitution und - entwicklung für die Ausbildung einer eigenen Identität grundlegend ist, weil sie, wie die Psychoanalyse gezeigt hat, direkt mit der Sprach- und Subjektwerdung einhergeht, wird evident, dass der Frau eine eigene Identität fehlt. "Jede bisherige Theorie des Subjekts hat dem 'Männlichen' entsprochen" sagt Irigaray in Speculum. "Sie [die Frau] gerät in die Situation, durch den Diskurs zum Objekt zu werden - insofern sie weiblich ist. Sie macht sich darin selbst noch einmal zum Objekt, wenn sie vorgibt, sich 'wie' ein männliches Subjekt zu identifizieren." Irigaray spricht sich rückhaltlos gegen Gleichheit der Geschlechter aus. Ihr wichtigstes Ziel - die Ermöglichung einer Identität der Frau als Frau - lässt sich in ihren Augen nur auf dem Weg der Abgrenzung der Geschlechter voneinander einholen. Alles andere ist Ein- und damit Unterordnung des Weiblichen unter das Männliche. Wie sieht aber ein "pures" Weibliches aus, das bisher noch gar nie bestand? Denn das Weibliche, so wie es jetzt wahrnehmbar ist, ist für Irigaray immer nur Maskerade an einem von vornherein definierten Ort. Im Prinzip ist schon die Frage falsch oder männlich, weil ihre Beantwortung nur wieder eine Festschreibung des Weiblichen innerhalb einer männlichen Ordnung zu Folge hätte; aus dem phallozentrisch geprägten Denken gibt es keinen echten Ausweg. Irigaray ist sich dieser Problematik voll bewusst, und so sind ihre ersten Entwürfe von "Weiblichkeit" so offen und vieldeutig, dass, etwas salopp formuliert, das Weibliche eben das Offene und Vieldeutige ist. Wenn in Das Geschlecht, das nicht eins ist viel vom Körper der Frau und dessen Fliessen die Rede ist, so darf dies nicht vorschnell einem latenten Biologismus alter patriarchaler Schule angelastet werden. Vielmehr muss Irigarays Neubewertung weiblicher Sexual- und Subjektkonstitution aus der Sicht der feministischen Psychoanalytikerin berücksichtigt werden.
Ihre Darstellung der Vielheit erogener Zonen auf dem weiblichen Körper und dessen ganz einzigartiger Fähigkeit zur genussvollen Autoerotik hat einiges gemeinsam mit Freuds polymorphen Perversionen der infantilen, präodipalen Triebphase. Irigaray wertet damit die aus der Psychonalyse Freuds und Lacans verdrängte und weitgehend ausgeschlossen Phase der primären Mutterbindung auf. Um dem einen Phallusgott den Kampf anzusagen und aus der genitalen Ordnung à la Freud auszutreten, erfindet Irigaray eine Art und Weise weiblicher Lust, die nolens volens eher theoretisch als praktisch erfahrbar ist. Sie erkürt die Schamlippen zum Ort weiblicher Sexualität und hat damit zwei Dinge im Visier: die Lippen als Ort, wo das Begehren spricht - in körperlicher und verbaler Hinsicht. "Die Frau 'berührt sich' immerzu, ohne dass es ihr übrigens verboten werden könnte, da ihr Geschlecht aus zwei Lippen besteht, die sich unaufhörlich aneinander schmiegen. Sie ist also in sich schon immer zwei, die einander berühren, die jedoch nicht in eins (einen) und eins (eine) trennbar sind."
Mit den Lippen spielt sie aber auch auf die Analogie zwischen weiblichem Genital und Mund an und setzt ohne lange Umstände Körper und Sprache ineins. Dieses körperzentrierte Sprechen jenseits der herkömmlichen Sprache, am ehesten noch mit dem glossolalischen Sprechen von Kindern, Verrückten und Träumern vergleichbar, nennt sie "Frau-Sprechen". Auch wenn es noch kaum existiere, da ja dieser weibliche Freiraum noch gar nicht besteht, könne es sich vereinzelt, dann wenn Frauen unter sich seien, aussprechen. "'Sie'[die Frau] ist in sich selbst unbestimmt und unendlich anders. [...] Widersprüchliche Reden, ein wenig verrückt für die Logik der Vernunft, unhörbar für den, der sie durch immer schon fertige Raster, mit einem schon immer vorgefertigten Code hört. Das heisst, dass auch in ihrem Sagen - wenigstens wenn sie es wagt - die Frau sich immerzu selbst berührt. Von sich selbst rückt sie kaum ab in einem Plaudern, einem Ausruf, einer halbvertraulichen Mitteilung, in einem in der Schwebe gelassenen Satz. Wenn sie hierher zurückkehrt, dann, um anderswohin wieder aufzubrechen. Man muss ihr zuhören von einem anderen Punkt der Lust oder des Schmerzes aus, mit einem anderen Ohr, ihr zuhören wie einem "anderen" Sinn, der immer dabei ist, sich einzuspinnen, sich mit Worten zu umarmen, aber auch sich davon abzulösen, um sich darin nicht festzulegen, darin nicht zu erstarren. Denn wenn 'sie' es sagt, ist es nicht, nicht mehr, identisch mit dem, was sie sagen will. Es ist auch niemals mit irgendetwas anderem identisch; eher ist es angrenzend. Es be-rührt (an). Und wenn es sich allzusehr von dieser Nähe entfernt, bricht sie ab und beginnt wieder bei 'Null': ihrem Geschlecht-Körper." Was Irigaray hier produziert, ist keine starre Theorie mehr, sondern ein fliessendes, "flunkerndes" Locken, das Lust bereiten, aber auch Wut entfachen kann bei denen, die nun gerne den Sinn der Sache verstehen würden.
Wenn Irigaray bereits hier der Essentialismus-Prozess gemacht wird, weil sie für das, was "Weiblichkeit" sein könnte, vom biologischen Körper und dessen Geschlecht ausgeht, wird vergessen, dass sie in der Doppeltheit denkt, in der die "Scham-Lippen" symbolischer und metaphorischer Ort sind. Ihr Zugriff auf das Körperliche geschieht hier noch aus dem Wissen heraus, dass es "das Körperliche" als Wesenheit nicht gibt, sondern dass es immer schon ein symbolisiertes Zeichen ist. Ganz anders tönt es aber Jahre später in der Genealogie der Geschlechter: "Die Lippen sind die Frau selbst". Tatsächlich verfällt Irigaray in die Rolle des weiblichen Spekulierers, der über die Weiblichkeit philosophiert und diese fixiert. Jetzt ist sie sogar so weit, die Fragen, die sie Freud in Speculum als eine kecke, unverständige Frau gestellt hat, zurückzunehmen und Freuds Frage zu beantworten: "Das Rätsel des Weiblichen würde also weitgehend dem der Lippen entsprechen".
Das Geschlecht, das nicht eins ist zerstört aber die Einheit und die Eigenheit des phallozentrischen, fest umrissenen Subjektbegriffs. Aus dem Geschlecht, das bisher keines war, macht sie gleich zwei und trägt die Identitäts-Spaltung, die der Mann nicht an und in sich, sondern über die Spiegelfrau als die Andere des Selben ausgetragen hat, in das weibliche Subjekt hinein. Ihr Entwurf von Weiblichkeit hat deshalb viel zu tun mit postmodernen Identitätsvorstellungen, nach denen das Subjekt sich überallhin verliert. Im Gegensatz zu diesen Diagnosen der Totalauflösung gibt es aber bei Irigaray einen offenen Ort - ihr Geschlecht -, der Beziehungen schafft und die Frau vor ihrem völligen Selbstverlust schützt. Denn weil die Frau bisher keine Identität hatte, kann es nicht Ziel des Feminismus sein, der Frau im Zuge einer postmodernen Modewelle eine solche abzusprechen.


DIE ETHIK DER SEXUELLEN DIFFERENZ: EIN SCHULD- UND SUEHNEDISKURS
In Das Geschlecht das nicht eins ist singt Irigaray in allen Tönen, dass sich das, was Frau ist, nicht sagen lässt, dass dieser "Geschlecht-Körper" ein "Null"-Punkt ist, an dem alles, was auf irgendeine Weise mit Frau zu tun hat, wiederbeginnt. Weiblichkeit gibt es noch nicht, oder wenn, dann immer anti-essentiell, als Differenz zwischen dem Mann und dessen negativem Pol, der Frau. Doch seit der Ethik der sexuellen Differenz schraubt sich das Geschlecht als Fixpunkt fest. Dieses Körper-Geschlecht scheint, trotz der jahrhundertelangen Knechtung und Fesselung, erstaunlich gesund. Ganz im Gegensatz zur Erfahrung im Zeitalter von Aids, in dem der Körper allgemein als Ort der Gefährdung erlebt wird, heisst es bei Irigaray utopisch: "Es ist wichtig, dass wir unsere Körper pflegen und schützen, gerade dann, wenn wir sie aus dem Schweigen und der Unterwerfung befreien. Historisch gesehen sind wir die Hüterinnen des Körperlichen. Wir sollten diese Aufgabe nicht aufgeben, sondern sie für uns selbst in Anspruch nehmen und die Männer auffordern, aus uns nicht 'ihre Körper' zu machen, kein Unterpfand für ihre Körper." Irigaray hat in ihren frühen Schriften ein Konzept der Nachahmung entworfen, welches sie mimetische Durchquerung nannte. Die Frauen sollen die Art und Weise ihrer Festschreibung durch die Männer übernehmen und dadurch unterminieren. Aehnliches scheint sie hier den Frauen vorzuschlagen. Diese sollen nämlich endlich akzeptieren, dass sie dem Naturhaften näher sind als die Männer und das für sich nutzen. Da besonders heute "Natur" weniger greifbar scheint denn je, fragt es sich, wie eine Frau, die nicht naiv vor der Zivilisation flieht oder auf dem New Age-Trip ist, Irigarays wohlmeinendem, doch leider realitätsfernen Vorschlag Folge leisten soll? Während ihr Konzept des Mimetischen zur Entlarvung gängiger Frauenbilder grosse Durchschlagskraft hatte, sind ihre neuen Vorstellungen nicht nur unzeitgemäss und hilflos nostalgisch, sondern wohlbekannt. Denn zum Trauerlied um die verlorene All-Einheit, die die "Natur" und die "Frau" bestens repräsentieren, ist immer wieder, besonders im Zuge der Rationalismuskritik, angestimmt worden. Die Frauen, die immer noch Einschränkungen durch männliche Zuschreibungen bekämpfen müssen, fürchten sich vor Irigarays Sentimentalismus und dessen Bumerangeffekt.
Kommt dazu, dass Ihrigarays neuestes Vokabular strotzt vor mythologischer und religiöser Metaphorik. Sie spricht von einer grossen Schuld, die auf dem männlichen Geschlecht laste und die es zu sühnen gelte: dem Muttermord. Indem allein das Gesetz und der Name des Vaters zähle, werde die Mutter umgebracht und die Herstellung einer weiblichen Genealogie unterbunden. Als Alternative zum abendländischen Gottvater plädiert sie dafür, dass die Frauen sich einen weiblichen Gott schaffen sollen, an dem sie sich messen können um ihre Subjektivität zu vollenden. Irigarays Sprechen hat etwas unglaublich Verführerisches - vor allem für Frauen. Sie prophezeit ein Paradies auf Erden, in dem die Frauen, deren Mütter und Grossmütter göttlich werden. Endlich jemand, der nicht in dieses dauernde Endzeitgefasel und die totale Cyberspace-Affirmation einstimmt! Endlich wieder mal ein Gebot zur Achtung gegenüber dem Mitmenschen, ein Aufruf zum Widerstand gegen die technokratische Totaleinverleibung der Welt! Ach, wie gerne würde man Irigaray doch glauben:"Nur eine sexuelle Kultur und eine Ethik der sexuellen Differenz können heute unsere Körper und unsere Welt gegen die Gefahren der Zerstörung schützen, die von einem unreflektieren Gebrauch der Technik und des Profits herrühren." Aber kann man leugnen, dass wir alle schon viel zu sehr zu dieser Welt gehören, als dass sich durch das Wunderheilmittel der sexuellen Differenz und der theoretisch geforderten Achtung vor der Frau alles retten liesse! Liesse sich die Ahnung verdrängen, dass nun ein weiblicher Messias die Bühne betreten muss?
Irigaray hingegen setzt auf die Frau als Mutter. Damit meint sie nicht, dass die Frau anstelle von Hure oder Jungfrau die Mutter als Reproduzentin von Nachwuchs dekonstruieren soll, sondern sie verleibt sich die Mutterschaft in der Tat als positiven Begriff für jede Form von weiblicher Produktion ein: "Es ist gleichfalls wichtig, dass wir entdecken und darin festhalten, dass wir als Frauen immer Mütter sind. Wir bringen andere Dinge als nur Kinder zur Welt, wir erzeugen und erschaffen anderes als Kinder: Liebe, Begehren, Sprache, Kunst, Soziales, Politisches, Religiöses etc. Aber dieses Schaffen und Erzeugen ist uns jahrhundertelang verboten worden, und wir müssen uns diese mütterliche Dimension, die uns als Frauen zusteht, neu aneignen." Hier muss man vehement fragen, ob Irigaray nicht zu einer Nachrednerin traditioneller, insbesondere romantischer Frauenbilder wird und die Kritik am Abendland durch die Feier des Morgenlands ansetzt. Ihre Logik verträgt sich nämlich bestens mit kosmologischen Wiederherstellungsmythen. Nachdem sie in ihren Anfängen den Ausschluss der Frau festgestellt hat, plädiert sie nun für deren Integration, womit die Welt wieder in Ordnung wäre. Dennoch spricht Irigaray noch nicht vom Flechten und Weben! Trotz allem furchterregenden religiösen Schwulst sind auch ihre neuen Theorien komplex und nie eindeutig als konservative Ineinssetzung von Frau und Natur lesbar, obwohl es permanent so tönt. Ihr dauerndes Neuinterpretieren von philosphischen und psychoanalytischen Texten, von Märchen, Mythen und Religionen deutet leider auf ein völlig geschlossenes Geschichtsbild hin, das nur das Eine kennt: die sexuelle Differenz. Eine Theorie aber, die sich im hermetischen Raum eines ganzheitlichen Ursprungsdenkens abspielt, die sich - trotz einiger praktischer Vorschläge zur Verbesserung der Welt - indifferent gegenüber konkreten politisch-sozialen Veränderungen verhält, wird selbst zum Mythos, dessen einziger Sprengsatz eine alte Ideologie ist.