Agentin Dr. Marion Strunk gehört in der Agentur Crosscomm zur Abteilung Theoretical Support. Sie versieht uns regelmässig mit Texten zum Thema Erinnern und Vergessen.

 

1: Mnemoric
2: Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleid (Sören Kierkegaard, 1843)
3: Vergessen
4: Walter Benjamin - Das Penelopewerk des Vergessens (1929)
5: DONNA HARAWAY - aus einem Interview mit Constance Penley & Andrew Ross in Technoculture
6: TONI MORRISON aus "Sehr blaue Augen"

 

Mnemoric

von Marion Strunk

 

Erinnern beginnt mit Vergessen. Das wissen alle, denn was geschieht, im einzelnen oder allgemeinen, ist vergänglich, nicht von Dauer. Aber: Was bleibt?       Frage >>       << Antwort

Nietzsche schrieb: Nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis - das ist der Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. Die alten Griechen schufen sich eine Göttin - Instanz und aufmerksame Gehilfin - gegen das Vergessen: Mnemosyne. Im Lexikon der Antike, dem kleinen Pauly, wird sie als schöne Geliebte des Götterkönigs oder Mutter der neun Musen beschrieben, mit der besonderen Aufgabe versehen, im Heldengedicht die dahingehenden Grössen und deren Taten vor Vergessenheit zu schützen. Ausserdem war sie zuständig für die Träume und die Offenbarung. Sie repräsentiert also Bereiche, die in der Moderne und bis heute das Bewusste und das Unbewusste genannt werden. Schon immer wird also das bewusste Erinnern mit dem Unbewussten verknüpft. Das Erinnern - auch als Bewahren begriffen - wird als etwas Wertvolles angesehen, als unverzichtbar. Wenn es eine Göttin braucht, um an das Erinnern zu erinnern, zeigt dies die Kraft des Vergessens. Wenn aber Mnemosyne schweigt, hat dann nur der Schmerz ihre Fähigkeit?

Es gibt doch auch die schöne, wunderbare Erinnerung, die auch Ereignis ist. Merkwürdigerweise regt sie weniger zum Nachdenken an, was die Erinnerung aber zweifellos will. Das Glück ist einfach glücklich, im Moment, aber auch sehr flüchtig. Erinnerung ist Einholung von Vergangenheit. Wiedererkennen. Auch Wiederholung. Nur kann sie das Erinnerte nicht präsentieren, es bleibt das Gewesene. Was wieder geholt wird, in welcher Zeit, an welchem Ort auch immer, es ist nicht dasselbe. Die Erinnerung macht einen Unterschied im Gegenwärtigen: Erfahrungen können wieder lebendig werden: Es gibt die Wiederholung der Geschichte; auch das Geschichtenerzählen mit einem Anfang und einem Ende. Wiederholung ist aber keine Anhäufung des Immergleichen, ein allgemeiner Begriff für die ewige Wiederkehr. Wiederholung thematisiert Differenz. Zeitlichkeit ist der eigentliche Sinn der Wiederholung. Zeitlichkeit als Struktureigenschaft; im Augenblick der Wiederholung zeigt sich der Unterschied zum Wiederholten; der Wiederholung wird die Differenz entlockt: die Hervorbringung des Verschiedenen. Im Handeln - den Unterschied machen - wird die Wiederholung schöpferisch: Andere Möglichkeiten (als die gewesenen), vieles wird denkbar, fühlbar, kurz: sinnlich erfahrbar, wird ästhetische Erkenntnis. Und so ist Erinnerung nicht die blosse Reproduktion früherer Vorstellungen, sondern der produktive Vorgang einer Verinnerlichung. Im Innern sitzen die Erinnerungen. Sie können in der Tiefe eingeschlossen, beschützt, bewahrt bleiben wie eine Reserve, vergessen, aber dieses Vergessen hat sie nicht zerstört, sondern schützend umhüllt.

Als eine der bekanntesten Metaphern gilt hierfür die der Schichtung: Die zeitliche Sukzessivität von Eindrücken erscheint als sich einander überlagernde Schichten, eine über der anderen, ohne verlässlichen Ursprung. Ein solcher Ursprung kann nicht repräsentiert werden, nur supplementiert. Den Supplementen sind mit den Erinnerungsspuren immer auch Spuren des Vergessens eingeschrieben, das von Vergangenem lösen, es aber auch verdrängen kann. Und so sind Erinnerungen nicht das Wahre, Schöne und unbedingt Gute, sie werden in der Zeit jeweils eigenartig imaginiert - eine Konstruktion, die aber in den Momenten der Erinnerung vieles über das faktische Jetzt zu erzählen vermag.

Erinnerungen holen niemanden und nichts zurück, im Gegenteil: Die Erinnerung treibt die Zeit weiter, indem sie wiederholt, geht sie nach vorn. Und Zukunft kommt im Augenblick der Gegenwart, der das Paradox anhaftet, die Zeit zu konstituieren und gleichzeitig in ihr unterzugehen. Die Erinnerung führt ins Gegenwärtige, damit die Zukunft nichts Unbekanntes wird. Die Zeit des Erinnerns kann als Weg in die erinnerte Zeit beschrieben werden, was aber seinen Schauplatz im Gegenwärtigen hat, dem Ort der Erinnerung.

Medium der Erinnerung ist das Gedächtnis: Das Vergangene wird erst im Medium des Gedächtnisses erstellt oder hergestellt. So bringt das Gedächtnis die Vergangenheit nicht zum Abschluss: Es hat die besondere Gabe, das Individuum, die einzelnen in diesen Prozess zu verwickeln und die Zeiten durcheinanderzubringen. Es hat auch einen scheinbaren Widersacher: das Vergessen. Von Zeit zu Zeit muss vergessen werden, damit das Gedächtnis arbeiten und an das Gedachte erinnern kann, um das anscheinend Verlorene wieder zu holen. Vielleicht für Trauer und Melancholie, vielleicht für Einsicht und Erkenntnis. Möglicherweise ist aber das Gedächtnis ein müder Krieger, ein Kalter Krieger oder ein Lüstling. Manches aber muss erinnert werden, das zeigen die Zeiten. Besonders jene, die der Verdrängung Vorschub geben, dieser klugen, schützenden, aber auch gefährlichen Abwehr, und die Unfähigkeit zu trauern zur Tugend erheben und Gedächtnis und Erinnerung kollektiv vergessen.

Die Gedächtniskunst, ars memoria, will Erinnerung. Mnemotechnik wird sie genannt, an die Wächterin Mnemosyne erinnernd, wurde sie doch im Alten Griechenland ausgebildet. Sie verbindet die Fähigkeit zur Erinnerung mit der Verortung von Bildern und beruht also auf den Möglichkeiten des visuellen Gedächtnisses in der Ðberzeugung, dass Gedanken oder Erlebnisse gut im Gedächtnis verhaften, wenn sie mit einer räumlichen Vorstellung assoziiert werden. Die Bilder-Orte, so hiess es, werden vor dem geistigen Auge abgeschritten. Oder die Bilder werden in der Inszenierung zu Orten der Erinnerung. Eine solche Verräumlichung greift auch die Konzeption von Zeit auf: Die Vergangenheit kann im Bild Dauer erreichen - und sei es für die Augenblicke einer Ausstellung. Für das Gedächtnis steht die Vergangenheit immer noch bevor, sie kann eben nicht bewältigt werden, aber artikuliert, vielleicht durchgearbeitet, oder: Die Erinnerung wird das Thema. Also ist das Gedächtnis selbst unabgeschlossen. Wie aber Vergangenes im Medium des Gedächtnisses erst wird, ist auch das Gedächtnis nicht einfach da, es muss hervorgebracht werden. Die Verräumlichung - der Erinnerung einen Ort geben-, das könnte ein Bild für das Gedächtnis werden. Die Bilder als Ort des Sichtbaren. Und mit den Bildern könnte daran erinnert werden, am Sichtbaren das Unsichtbare nicht zu vergessen.