Agentin Dr. Marion Strunk gehört in der Agentur Crosscomm zur Abteilung Theoretical Support. Sie versieht uns regelmässig mit Texten zum Thema Erinnern und Vergessen.

 

1: Mnemoric
2: Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleid (Sören Kierkegaard, 1843)
3: Vergessen
4: Walter Benjamin - Das Penelopewerk des Vergessens (1929)
5: DONNA HARAWAY - aus einem Interview mit Constance Penley & Andrew Ross in Technoculture
6: TONI MORRISON aus "Sehr blaue Augen"

 

Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleid (1843)

von Sören Kierkegaard

 

Als die Eleaten die Bewegung leugneten, trat, wie jedermann weiss, Diogenes als Opponent auf; er trat wirklich auf; denn er sprach nicht ein Wort; sondern ging lediglich einige Male auf und nieder und meinte damit jene hinreichend widerlegt zu haben. Als ich mich längere Zeit, zum mindesten gelegentlich, mit dem Problem beschäftigt hatte, ob eine Wiederholung möglich sei und welche Bedeutung sie besitze, ob eine Sache dadurch, daþ sie wiederholt wird, gewinne oder verliere, fiel es mir plötzlich ein: "Du kannst ja nach Berlin fahren, da bist du schon einmal gewesen, und kannst dich alsdann vergewissern, ob eine Wiederholung möglich ist und was sie zu bedeuten hat." Bei mir zu Hause wäre ich in diesem Problem beinahe stecken geblieben. Man sage darüber, was man wolle, es wird in der neuern Philosophie eine überaus wichtige Rolle zu spielen haben; denn Wiederholung ist ein entscheidender Ausdruck für das, was Erinnerung bei den Griechen gewesen ist. Gleich wie diese also gelehrt haben, dass alles Erkennen ein sich Erinnern sei, ebenso wird die neuere Philosophie lehren, dass das ganze Leben eine Wiederholung ist. Der einzige neuere Philosoph, der hiervon eine Ahnung gehabt hat, ist Leibniz. Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung; denn wessen man sich erinnert, das ist gewesen, wird rücklings wiederholt; wohingegen die eigentliche Wiederholung sich der Sache vorlings erinnert. Daher macht die Wiederholung, falls sie möglich ist, den Menschen glücklich, indessen die Erinnerung ihn unglücklich macht, unter der Voraussetzung nämlich, dass er sich Zeit nimmt zu leben und nicht schnurstracks in seiner Geburtsstunde einen Vorwand zu finden trachtet, sich aus dem Leben wieder davon zu stehlen, z.B. weil er etwas vergessen habe.

Die Liebe der Erinnerung ist die einzige glückliche, hat ein Schriftsteller gesagt. Damit hat er auch vollkommen recht, wenn man sich nur daran erinnert, daþ sie zunächst einmal den Menschen unglücklich macht. Die Liebe der Wiederholung ist in Wahrheit die einzige glückliche. Sie kennt ebenso wie die der Erinnerung nicht die Unruhe der Hoffnung, nicht die beängstigende Abenteuerlichkeit der Entdeckung, aber auch nicht die Wehmut der Erinnerung, sie hat des Augenblicks selige Sicherheit. Die Hoffnung ist ein neues Kleid, steif und stramm und glänzend, man hat es jedoch niemals angehabt, und weiss darum nicht, wie es einen kleiden wird oder wie es sitzt. Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleid, welches, so schön es ist, nicht mehr passt, da man aus ihm herausgewachsen ist. Die Wiederholung ist ein unverschleissbares Kleid, welches fest und zart sich anschmiegt, weder drückt noch schlottert. Die Hoffnung ist eine liebliche Maid, die den Händen entschlüpft; die Erinnerung ist eine schone alte Frau, mit der man jedoch im Augenblick nichts anzufangen weiss; die Wiederholung ist ein geliebtes Eheweib, dessen man niemals leid wird; denn allein des Neuen wird man leid. Des Alten wird man niemals leid; und wenn man es vor sich hat, wird man glücklich; und so recht glücklich wird allein der, welcher sich selbst nicht mit der Einbildung betrügt, dass die Wiederholung etwas Neues sein werde. Denn alsdann wird man ihrer leid. Es gehört Jugend dazu, um zu hoffen, Jugend dazu, um sich zu erinnern, aber es gehört Mut dazu, die Wiederholung zu wollen. Wer nichts als hoffen will, ist feige; wer nichts als sich erinnern will, ist wollüstig; wer aber die Wiederholung will, der ist ein Mann, und je gründlicher er es verstanden hat, sie sich klar zu machen, ein um so tieferer Mensch ist er. Wer aber nicht begreift, dass das Leben eine Wiederholung ist, und dass dies des Lebens Schönheit ist, der hat sich selbst gerichtet und verdient nichts Besseres, als dass er umkommt, was ihm denn auch widerfahren wird; denn die Hoffnung ist eine lockende Frucht, die nicht satt macht, die Erinnerung ist ein kümmerlicher Zehrpfennig, der nicht satt macht; die Wiederholung aber ist das tägliche Brot, welches satt macht und dabei segnet. Wenn man das Dasein umschifft hat, so wird es sich zeigen, ob man Mut hat zu verstehen, dass das Leben eine Wiederholung ist, und Lust hat sich an ihr zu freuen. Wer das Leben nicht umschifft hat, ehe denn er anhob zu leben, der gelangt niemals dahin, zu leben; wer es umschifft hat, aber satt geworden ist, der hätte eine kümmerliche Leibesverfassung; wer die Wiederholung gewählt, der lebt. Er läuft nicht einem Knaben gleich den Schmetterlingen nach, oder steht auf den Zehenspitzen, um nach den Herrlichkeiten der Welt zu spähen; denn er kennt sie; er sitzt auch nicht wie ein altes Weib und spinnt den Rocken der Erinnerung ab; sondern er geht geruhig seines Weges, der Wiederholung froh. Ja, gäbe es keine Wiederholung, was wäre dann das Leben? Wer machte sich denn wünschen, eine Tafel zu sein, auf welche die Zeit jeden Augenblick eine neue Schrift setzt oder eine Gedächtnisschrift zu sein auf das Vergangene? Wer möchte sich wünschen, sich von all dem Flüchtigen, dem Neuen bewegen zu lassen, das immer von neuem weichlich die Seele vergnügt? Er hätte entweder der Hoffnung leichte Pläne verfolgt, oder er hätte alles zurückgenommen und es aufbewahrt in der Erinnerung. So hat er nicht getan, darum hat die Welt Bestand und hat dadurch Bestand, dass sie eine Wiederholung ist. Die Wiederholung, sie ist die Wirklichkeit und des Daseins Ernst. Wer die Wiederholung will, er ist im Ernst gereift. Dies ist mein Separat-Votum, welches zugleich besagt, es sei keineswegs des Lebens Ernst, auf dem Sofa zu sitzen und in den Zähnen zu stochern - und etwas zu sein, z. B. Justizrat; oder gemessen durch die Strassen zu wandeln - und etwas zu sein, z. B. Wohlehrwürden; ebensowenig wie es des Lebens Ernst ist, königlicher Bereiter zu sein. Alles dergleichen ist in meinen Augen bloss Scherz, und als solcher zuweilen dürftig genug.
Die Liebe der Erinnerung ist die einzige glückliche, sagt ein Schriftsteller, der, sofern ich ihn verstehe, unterweilen etwas arglistig ist, jedoch nicht dergestalt, dass er das eine sagt und das andre meint, wohl aber dergestalt, dass er den Gedanken auf die Spitze stellt, so dass dieser, wo er nicht mit der gleichen Energie ergriffen wird, sich im nächsten Augenblick als etwas anderes zeigt.
Jener Satz ist von ihm auf eine Art vorgetragen, dass man leicht versucht ist, ihm recht zu geben und also zu vergessen, dass der Satz selber Ausdruck der tiefsten Melancholie ist, dass somit eine tiefe Schwermut, zu einer einzigen Erwiderung verdichtet, sich nicht leicht besser ausdrücken könnte.


In: Sören Kierkegaard: Die Wiederholung. Drei erbauliche Reden 1843, Düsseldorf 1955
(Gesammelte Werke, Bd. 5/6), S.1-97, S.3 ff.