Agentin Dr. Marion Strunk gehört in der Agentur Crosscomm zur Abteilung Theoretical Support. Sie versieht uns regelmässig mit Texten zum Thema Erinnern und Vergessen.

 

1: Mnemoric
2: Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleid (Sören Kierkegaard, 1843)
3: Vergessen
4: Walter Benjamin - Das Penelopewerk des Vergessens (1929)
5: DONNA HARAWAY - aus einem Interview mit Constance Penley & Andrew Ross in Technoculture
6: TONI MORRISON aus "Sehr blaue Augen"

 

TONI MORRISON aus Sehr blaue Augen


Es hatte mit Weihnachten und den Puppen angefangen, die wir geschenkt bekamen. Das grosse, besondere, liebevolle Geschenk war immer eine grosse blauäugige Babypuppe. An dem glucksenden Tonfall der Erwachsenen merkte ich, dass ihrer Meinung nach mit der Puppe mein Herzenswunsch erfüllt wurde. Ich stand verwirrt vor diesem Ding und seinem Aussehen. Was sollte ich damit machen? So tun, als wäre ich seine Mutter? Ich interessierte mich nicht für Babies oder den Begriff der Mutterschaft. Ich interessierte mich nur für Menschen meines Alters und meiner Grösse und konnte für die Aussicht, Mutter zu sein, keinerlei Begeisterung aufbringen. Mutterschaft hiess Alter und andere fernerliegende Möglichkeiten. Ich lernte jedoch schnell, was ich mit der Puppe zu tun hatte: sie wiegen, ausgedachte Situationen für sie fabrizieren, sogar mit ihr schlafen. Die Bilderbücher waren voll von kleinen Mädchen, die mit ihren Puppen schliefen. Für gewöhnlich waren es Flickerpuppen, aber die kamen nicht in Frage. Ich hatte einen physischen Abscheu und heimliche Angst vor ihren Eierkuchengesichtern mit den runden, schwachsinnigen Augen und dem wurmartigen, orangenen Haar.

Die anderen Puppen, die mir grosses Vergnügen machen sollten, bewirkten genau das Gegenteil. Wenn ich sie mit ins Bett nahm, lehnten ihre harten, unnachgiebigen Gliedmassen sich gegen mein Fleisch auf die spitzen Finger an ihren Grübchenhänden kratzten mich. Wenn ich mich im Schlaf umdrehte, kollidierte der knochenkalte Kopf mit meinem. So eine Puppe war eine höchst unbequeme, geradezu aggressive Bettgenossin. Sie im Arm zu halten, war auch nicht lohnender. Die gestärkte Gaze oder Spitze an ihrem Baumwollkleid störte jede Umarmung. Ich hatte nur einen Wunsch: sie auseinanderzunehmen. Zu sehen, woraus sie gemacht war, das Liebenswerte, das Schöne, das Begehrenswerte an ihr zu entdecken, das mir entgangen war, aber anscheinend nur mir. Erwachsene und grössere Mädchen, Läden, Zeitschriften, Zeitungen und Schaufensterdekorationen die ganze Welt war sich darin einig, dass eine blauäugige, gelbhaarige, rosighäutige Puppe dasjenige war, was jedes kleine Mädchen zu schätzen wusste. 'Hier', sagten sie, 'das ist etwas Schönes, und wenn du heute 'brav' bist, darfst du es haben.' Ich befingerte das Gesicht und wunderte mich über die mit einem Strich gezogenen Augenbrauen, ich klopfte an die Perlzähnchen, die wie zwei Klaviertastaturen zwischen den roten Lippenbögen glänzten. Zog mit dem Finger die Stubsnase nach, bohrte in den gläsernen blauen Augenbällen, zwirbelte das gelbe Haar.
Ich konnte sie nicht liebhaben. Aber ich konnte sie untersuchen, vielleicht entdeckte ich, was alle Welt so liebenswert fand. Die winzigen Finger abbrechen, die flachen Füsse verbiegen, das Haar zerzausen, den Kopf verdrehen, und das Ding gab einen Ton von sich einen Ton, von dem sie sagten, es wäre der süssklagende Schrei 'Mama', der mir aber wie das Blöken eines sterbenden Lammes klang oder, genauer, wie unsere Eisschranktür mit ihren verrosteten Angeln im Juli. Den kalten, dummen Augapfel herausnehmen (immer noch blökte es 'Bääh'), den Kopf abnehmen, die Sägespäne herausschütteln, den Rücken an der Messingbettstelle erschlagen und immer noch blökte es. Der Gazefleck im Rücken zerriss, und ich konnte die Scheibe mit sechs Löchern sehen, das Geheimnis des Tones. Bloss ein rundes Stück Metall.

Die Erwachsenen runzelten die Stirn und machten ein grosses Gewese: 'Weisst-du- denn-nicht-wie-man-mit-sowas-umgeht? Ich-hab-in-meinem-ganzen-Leben-keine-Babypuppe-gehabt-und-hab-mir-die-Augen-danach-ausgeheult. Nun-hast-du-so-eine-schöne-und-die-machst-du-kaputt-was-ist-mit-dir-los ?'

Wie empört sie waren! Tränen drohten die Überlegenheit ihrer Autorität auszulöschen. Das Gefühl jahrelanger unerfüllter Sehnsucht macht sich in ihren Stimmen breit. Ich wusste nicht, warum
ich diese Puppen zerstörte. Aber ich wusste, dass mich nie jemand gefragt hatte, was ich mir zu Weihnachten wünschte. Hätte ein Erwachsener mit der Macht, meine Wünsche zu erfüllen, mich
ernst genommen und mich gefragt, was ich mir wünschte, so hätte ich geantwortet, dass ich nichts für mich haben, keinen Gegenstand besitzen wollte. Ich wünschte mir vielmehr, am Weihnachtstag etwas zu empfinden. Die richtige Frage wäre gewesen: 'Liebe Claudia, was möchtest du gern Weihnachten erleben?'

Und ich hätte sagen können: 'Ich möchte auf dem Stühlchen in Big Mamas Küche sitzen, den Schoss voller Flieder, und zuhören, wie Big Papa für mich allein auf seiner Geige spielt'. Der niedrige Schemel, der zu meinem Körper passte, die Geborgenheit und Wärme von Big Mamas Küche, der Fliederduft, der Klang der Musik und hinterher vielleicht der Geschmack eines Pfirsichs, um für alle Sinne etwas Schönes zu haben.