Agentin Dr. Marion Strunk gehört in der Agentur Crosscomm zur Abteilung Theoretical Support. Sie versieht uns regelmässig mit Texten zum Thema Erinnern und Vergessen.

 

1: Mnemoric
2: Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleid (Sören Kierkegaard, 1843)
3: Vergessen
4: Walter Benjamin - Das Penelopewerk des Vergessens (1929)
5: DONNA HARAWAY - aus einem Interview mit Constance Penley & Andrew Ross in Technoculture
6: TONI MORRISON aus "Sehr blaue Augen"

 

Vergessen. Eine Wiederholung.

(Projekt: Alles nur geklaut)

Dem Vergessen würde eigentlich eine spontane Rede besser
entsprechen, als ein vor einiger Zeit verfasster Text. Falls Vergessen
im Medium der Schrift auftaucht, ist es längst festgeschrieben,
gehört zum Konzept und ist daher nur Simulation. Vermutlich
kann eine Theorie des Vergessens überhaupt nur von Simulanten
erzeugt werden. Denn schon die Bewältigung des Alltags erfordert
eine grosse Menge an Gedächtnisleistungen; sind doch die Dinge,
die man vergessen kann, schrecklich zahlreich: Vielleicht lässt man
das Licht im Hause brennen. Oder auch den Herd. Oder man kann
nicht mehr in das Haus hinein, weil man den Schlüssel vergessen
hat. Dem, der chronisch vergisst, geht so das Heim verloren. Ohne
ein geordnetes Innenleben ist er grausamer Äusserlichkeit
ausgesetzt, sobald seine Erinnerung ihn verlassen hat. Das
Erinnern nämlich ist eine der wenigen Tätigkeiten, die schon
sprachlich eine Orientierung des Raumes voraussetzt. Wer sich
erinnert, geht in sich, schliesst sich von der Aussenwelt ab, um sich
den vergangenen Erlebnissen, die in seinem Innern
vergegenwärtigt werden, zu widmen. Dem Vergessen hingegen
sind räumliche Orientierungen fremd. Es zerstört die Differenz von
Innen und Aussen. Genauso zerstört es auch die zeitlichen
Orientierungen. Andererseits würde auch eine totale Erinnerung
die Zeit beenden. So berichtet Jorge Luis Borges in der Erzählung
"Das unerbittliche Gedächtnis" von Funes, einem jungen
Argentinier, der zwar einerseits jederzeit die genaue Uhrzeit
nennen kann und von der Fülle seiner Erinnerungen so begeistert
ist, dass ihm sein momentaner physischer Zustand nicht auffällt.
Andererseits werden ihm die Erinnerungen über die reine
Verfügbarkeit zu katalogisierbaren Gedächtnisbildern, von denen
keines wertvoller ist als ein anderes. Funes geht so die mit Lust
und Unlust verbundene, emotional differenzierte Zeit verloren. Eine
seltsame Vorstellung, ihn einer Psychoanalyse unterziehen zu
wollen ? kann es doch keinerlei Verdrängung geben, wo
unerbittlich erinnert wird. Auch die biographische Einheit der
Erinnerungen löst sich auf, wenn das Subjekt kein erlebendes ist,
sondern nur noch Archivar. Es scheint also, als ginge es darum,
eine gesunde Mitte zwischen Erinnern und Vergessen zu finden.
Wie aber, wenn Gesundheit nichts ist als "ein Überfluss
eingeschliffener Krankheiten", wie Antonin Artaud behauptet hat?
Wenn Gesundheit eine Folge des jeweiligen gesellschaftlichen
Gefüges ist? Die Frage, ob wir in einer Erinnerungskultur oder
einer Vergessenskultur leben, kann hier nicht entschieden werden.
Einen Hinweis auf Missachtung des Vergessens kann jedoch der
Ausdruck Vergesslichkeit geben, der einer bestimmten Art des
Vergessens einen pejorativen Namen gibt, es als einen schlichten
Mangel benennt. Eine ebenfalls negativ besetzte Erinnerlichkeit
hingegen gibt es nicht. Dabei kann eine bereits zu Lebzeiten
einsetzende Erinnerungsmaschinerie so unangenehm sein, wie in
Vergessenheit zu geraten? die Beispiele von Menschen, die daran
zerbrechen, eine Ikone des öffentlichen Lebens geworden zu sein,
sind zahlreich. Artaud schreibt am 22. September 1945 aus der
Vergessenheit der psychatrischen Anstalt von Rodez einen Brief, in
dem er einige Teile eines verlorengegangenen Buches wiedergibt:

ratara ratara ratara
atara tatara rana

otara otara katara
otara ratara kana

ortura ortura konara
kokona kokona koma

kurbura kurbura kurbura
kurbata kurbata keyna

pesti anti pestantum putara
pest anti pestantum putra

er kommentiert diese Phrase, die richtig gelesen, von allen
Menschen, gleich welcher Nation oder Sprache verstanden werden
soll, folgendermassen:
damit das geschrieben leben kann, bedarf es eines anderen
Elementes, das in diesem Buch ist, das verlorengegangen ist.
Dieses Element ist, wie ich glaube, das Vergessen. Eine bestimmte
Art des Vergessens: schwarzes Vergessen dessen, von dem man
nicht weiss, dass man es ständig erinnert, schwarzes Vergessen
dessen, was die für gesunde Subjekte notwendige Trennung von
Innen und Aussen erst herstellt: einer bestimmten Form der
Sprache ? Vergessen der Grammatik, innerhalb derer diese Laute
nur als aufdringlicher Unsinn deklariert werden können. Ob
allerdings eine Theorie möglich ist, die nicht ihren
grammatikalischen Hausrat pflegt, ist fraglich. Denn schon die
Bewältigung des sprachlichen Alltags erfordert eine grosse Menge
an Gedächtnisleistungen. Überhaupt sind die Dinge, die man
vergessen kann, schrecklich zahlreich:
Vielleicht lässt man das Licht im Hause brennen. Oder auch den
Herd. Oder man kann nicht mehr in das Haus hinein, weil man den
Schlüssel vergessen hat. Dem, der schwarz vergisst, geht Heim und
Theorie verloren.