Agentin Dr. Marion Strunk gehört in der Agentur Crosscomm zur Abteilung Theoretical Support. Sie versieht uns regelmässig mit Texten zum Thema Erinnern und Vergessen.

 

1: Mnemoric
2: Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleid (Sören Kierkegaard, 1843)
3: Vergessen
4: Walter Benjamin - Das Penelopewerk des Vergessens (1929)
5: DONNA HARAWAY - aus einem Interview mit Constance Penley & Andrew Ross in Technoculture
6: TONI MORRISON aus "Sehr blaue Augen"

 

Walter Benjamin - Das Penelopewerk des Vergessens (1929)

 

Die dreizehn Bände von Marcel Prousts "A la Recherche du Temps perdu" sind das Ergebnis einer unkonstruierbaren Synthesis, in der die Versenkung des Mystikers, die Kunst des Prosaisten, die Verve des Satirikers, das Wissen des Gelehrten und die Befangenheit des Monomanen zu einem autobiographischen Werk zusammentreten. Mit Recht hat man gesagt, dass alle grossen Werke der Literatur eine Gattung gründen oder sie auflösen, mit einem Worte, Sonderfälle sind. Unter ihnen ist aber dieser einer von den unfasslichsten. Vom Aufbau angefangen, welcher Dichtung, Memoirenwerk, Kommentar in einem darstellt, bis zu der Syntax uferloser Sätze (dem Nil der Sprache, welcher hier befruchtend in die Breiten der Wahrheit hinübertritt) ist alles ausserhalb der Norm. Dass dieser grosse Einzelfall der Dichtung gleichzeitig ihre gröbste Leistung in den letzten Jahrzehnten darstellt, das ist die erste, aufschlussreiche Erkenntnis, die an den Betrachter herantritt. Und ungesund im höchsten Grade die Bedingungen, die ihm zugrunde lagen. Ein ausgefallenes Leiden, ungemeiner Reichtum und eine anormale Veranlagung. Nicht alles an diesem Leben ist musterhaft, exemplarisch aber ist alles. Es weist der überragenden schriftstellerischen Leistung dieser Tage ihren Ort im Herzen der Unmöglichkeit, im Zentrum und freilich zugleich im Indifferenzpunkt aller Gefahren an und kennzeichnet diese grosse Realisierung des "Lebenswerks" als eine letzte auf lange. Prousts Bild ist der höchste physiognomische Ausdruck, den die unaufhaltsam wachsende Diskrepanz von Poesie und Leben gewinnen konnte. Das ist die Moral, die den Versuch rechtfertigt, es heraufzurufen.
Man weiss, dass Proust nicht ein Leben wie es gewesen ist in seinem Werk beschrieben hat, sondern ein Leben, so wie der, der's erlebt hat, dieses Leben erinnert. Und doch ist auch das noch unscharf und bei weitem zu grob gesagt. Denn hier spielt für den erinnernden Autor die Hauptrolle gar nicht, was er erlebt hat, sondern das Weben seiner Erinnerung, die Penelopearbeit des Eingedenkens. Oder sollte man nicht besser von einem Penelopewerk des Vergessens reden? Steht nicht das ungewollte Eingedenken, Prousts memoire involontaire dem Vergessen viel näher als dem, was meist Erinnerung genannt wird? Und ist dies Werk spontanen Eingedenkens, in dem Erinnerung der Einschlag und Vergessen der Zettel ist, nicht vielmehr ein Gegenstück zum Werk der Penelope als sein Ebenbild? Denn hier löst der Tag auf, was die Nacht wirkte. An jedem Morgen halten wir, erwacht, meist schwach und lose, nur an ein paar Fransen den Teppich des gelebten Daseins, wie Vergessen ihn in uns gewoben hat, in Händen. Aber jeder Tag löst mit dem zweckgebundenen Handeln und, noch mehr, mit zweckverhaftetem Erinnern das Geflecht, die Ornamente des Vergessens auf. Darum hat Proust am Ende seine Tage zur Nacht gemacht, um im verdunkelten Zimmer bei künstlichem Lichte all seine Stunden ungestört dem Werk zu widmen, von den verschlungenen Arabesken sich keine entgehen zu lassen.

Wenn die Römer einen Text das Gewebte nennen, so ist es kaum einer mehr und dichter als Marcel Prousts. Nichts war ihm dicht und dauerhaft genug. Sein Verleger Gallimard hat erzählt, wie Prousts Gepflogenheiten beim Korrekturlesen die Verzweiflung der Setzer machten. Die Fahnen kamen immer randvoll beschrieben zurück. Aber kein einziger Druckfehler war ausgemerzt worden; aller verfügbare Raum war mit neuem Texte erfüllt. So wirkte die Gesetzlichkeit des Erinnerns noch im Umfang des Werks sich aus. Denn ein erlebtes Ereignis ist endlich, zumindest in der einen Sphäre des Erlebens beschlossen, ein erinnertes schrankenlos, weil nur Schlüssel zu allem was vor ihm und zu allem was nach ihm kam. Und noch in anderem Sinne ist es die Erinnerung, die hier die strenge Webevorschrift gibt. Einheit des Textes nämlich ist allein der actus purus des Erinnerns selber. Nicht die Person des Autors, geschweige die Handlung. Ja man kann sagen, deren Intermittenzen sind nur die Kehrseite vom Kontinuum des Erinnerns, das rückwärtige Muster des Teppichs. So wollte es Proust, so hat man ihn zu verstehen, wenn er sagte, er sähe am liebsten sein ganzes Werk zweispaltig in einem Bande und ohne jeden Absatz gedruckt.

Was suchte er so frenetisch? Was lag diesen unendlichen Mühen zugrunde? Dürfen wir sagen, dass alle Leben, Werke, Taten, welche zählen, nie andres waren, als die unbeirrte Entfaltung der banalsten und flüchtigsten, sentimentalsten und schwächsten Stunde im Dasein dessen, dem sie zugehören? Und als Proust an einer berühmten Stelle diese seine eigenste Stunde geschildert hat, tat er's so, dass jeder sie in seinem Dasein wiederfindet. Nur wenig fehlt, und wir dürfen sie eine alltägliche nennen. Sie kommt mit der Nacht, einem verlorenen Gezwitscher oder dem Atemzug an der Brüstung des offenen Fensters. Und es ist nicht abzusehen, was für Begegnungen uns bestimmt wären, wenn wir weniger willfährig wären, zu schlafen. Proust willfahrte dem Schlafe nicht. Und dennoch, eben darum vielmehr, konnte Jean Cocteau in einem schönen Essay von dem Tonfall seiner Stimme sagen, dass sie den Gesetzen von Nacht und Honig gehorsam war. Indem er unter ihre Herrschaft trat, besiegte er die hoffnungslose Trauer in seinem Innern (das was er einmal "l'imperfection incurable dans l'essence meme du present" genannt hat), und baute aus den Waben der Erinnerung dem Bienenschwarm der Gedanken sein Haus. Cocteau hat gesehen, was jeden Leser Prousts im höchsten Grade beschäftigen sollte: er sah das blinde, unsinnige und besessene Glücksverlangen in diesem Menschen. Es leuchtete aus seinen Blicken. Die waren nicht glücklich. Aber in ihnen sass das Glück wie im Spiel oder in der Liebe. Es ist auch nicht schwer zu sagen, warum dieser herzstockende, sprengende Glückswille, der Prousts Dichten durchdringt, seinen Lesern so selten eingeht. Proust selbst hat es ihnen an vielen Stellen erleichtert, auch dieses OEuvre unter der altbewährten, bequemen Perspektive der Entsagung, des Heroismus,
der Askese zu betrachten. Nichts leuchtet ja den Musterschülern des Lebens so ein, als eine grosse Leistung sei die Frucht von nichts als Mühen, Jammer und Enttäuschung. Denn dass am Schönen auch das Glück noch Anteil haben könnte, das wäre zuviel des Guten, darüber würde ihr Ressentiment sich niemals trösten.

Es gibt nun aber einen zwiefachen Glückswillen, eine Dialektik des Glücks. Eine hymnische und eine elegische Glücksgestalt. Die eine: das Unerhörte, das Niedagewesene, der Gipfel der Seligkeit. Die andere: das ewige Nocheinmal, die ewige Restauration des ursprünglichen, ersten Glücks. Diese elegische Glücksidee, die man auch die eleatische nennen könnte, ist es, die für Proust das Dasein in einen Bannwald der Erinnerung verwandelt. Ihr hat er nicht allein im Leben Freunde und Gesellschaft, sondern im Werke Handlung, Einheit der Person, Fluss der Erzählung, Spiel der Phantasie geopfert. [...]

Im vorigen Jahrhundert gab es in Grenoble ich weiss nicht, ob heute noch ein Wirtshaus "Au Temps perdu". Auch bei Proust sind wir Gäste, die unterm schwankenden Schild eine Schwelle betreten, hinter der uns die Ewigkeit und der Rausch erwarten. Mit Recht hat Fernandez ein theme de l'eternite bei Proust vom theme du temps unterschieden. Aber durchaus ist diese Ewigkeit keine platonische, keine utopische: sie ist rauschhaft. Wenn also "die Zeit für Jeden, der sich in ihren Verlauf vertieft, eine neue und bisher unbekannte Art der Ewigkeit enthüllt", so nähert sich doch der Einzelne damit durchaus nicht "den höheren Gefilden, die ein Plato oder Spinoza mit einem Flügelschlage erreichten". Nein denn es gibt zwar bei Proust Rudimente eines überdauernden Idealismus. Aber nicht sie sind es, die die Bedeutung dieses Werks bedingen. Die Ewigkeit, in welche Proust Aspekte eröffnet, ist die verschränkte, nicht die grenzenlose Zeit. Sein wahrer Anteil gilt dem Zeitverlauf in seiner realsten, das ist aber verschränkten Gestalt, der nirgends unverstellter herrscht als im Erinnern, innen, und im Altern, aussen. Das Widerspiel von Altern und Erinnern verfolgen, heisst in das Herz der proustschen Welt, ins Universum der Verschränkung dringen. Es ist die Welt im Stand der Ähnlichkeit und in ihr herrschen die "Korrespondenzen", die zuerst die Romantik und die am innigsten Baudelaire erfasste, die aber Proust (als Einziger) vermochte, in unserem gelebten Leben zum Vorschein zu bringen. Das ist das Werk der memoire involontaire, der verjüngenden Kraft, die dem unerbittlichen Altern gewachsen ist. Wo das Gewesene im taufrischen "Nu"sich spiegelt, rafft ein schmerzlicher Chock der Verjüngung es noch einmal so unaufhaltsam zusammen, wie die Richtung von Guermantes mit der Richtung von Swann für Proust sich verschränkte, da er (im dreizehnten Bande) ein letztes Mal die Gegend von Combray durchstreift und die Verschlingung der Wege entdeckt. Im Nu springt die Landschaft um wie ein Wind. "Ah! que le monde est grand a la clarte des lampes! / Aux yeux du souvenir que le monde est petit!" Proust hat das Ungeheure fertiggebracht, im Nu die ganze Welt um ein Menschenleben altern zu lassen. Aber eben diese Konzentration, in der, was sonst nur welkt und dämmert, blitzhaft sich verzehrt, heisst Verjüngung. "A la Recherche du Temps perdu" ist der unausgesetzte Versuch, ein ganzes Leben mit der höchsten Geistesgegenwart zu laden. Nicht Reflexion Vergegenwärtigung ist Prousts Verfahren. Er ist ja von der Wahrheit durchdrungen, dass wir alle keine Zeit haben, die wahren Dramen des Daseins zu leben, das uns bestimmt ist. Das macht uns altern. Nichts andres. Die Runzeln und Falten im Gesicht, sie sind die Eintragungen der grossen Leidenschaften, der Laster, der Erkenntnisse, die bei uns vorsprachen doch wir, die Herrschaft, waren nicht zu Hause. [...]

Und so ist denn auch die Grundfigur dieses Werkes, von der Proust nicht müde wurde, das Planvolle zu behaupten, nichts weniger als konstruiert. Planvoll aber, das ist sie wie der Verlauf unserer Handlinien oder die Anordnung der Staubgefässe im Kelch. Proust, dieses greise Kind, hat, tief ermüdet, sich an den Busen der Natur zurückfallen lassen, nicht, um an ihm zu saugen, sondern um bei ihrem Herzschlag zu träumen. So schwach muss man ihn sehen und begreift, mit welchem Glück Jacques Riviere ihn aus der Schwäche verstehen und sagen konnte: "Marcel Proust ist an derselben Unerfahrenheit gestorben, die ihm erlaubt hat, sein Werk zu schreiben. Er ist gestorben aus Weltfremdheit und weil er seine Lebensbedingungen, die für ihn vernichtend geworden waren, nicht zu ändern verstand. Er ist gestorben, weil er nicht wusste, wie man Feuer macht, wie man ein Fenster öffnet." Und, freilich, an seinem nervösen Asthma.

Die Ärzte haben diesem Leiden machtlos gegenübergestanden. Nicht so der Dichter, der es sehr planvoll in seinen Dienst gestellt hat. Er war um mit dem Äusserlichsten zu beginnen ein vollendeter Regisseur seiner Krankheit. Monatelang verbindet er mit vernichtender Ironie das Bild eines Verehrers, der ihm Blumen gesandt hatte, mit deren ihm unerträglichen Duft. Und mit den Tempi und Gezeiten seines Leidens alarmiert er Freunde, die den Augenblick fürchteten und ersehnten, da der Dichter plötzlich, lange nach Mitternacht, im Salon erschien brise de fatigue und nur auf fünf Minuten, wie er verkündete, um dann bis in den grauenden Morgen zu bleiben, zu müde, um sich zu erheben, zu müde, um auch nur seine Rede zu unterbrechen. Selbst der Briefschreiber findet kein Ende, diesem Leiden die entlegensten Effekte abzugewinnen. "Das Rasseln meiner Atemzüge übertönt das meiner Feder und eines Bades, das man im Stockwerk unter mir einlässt." Aber es ist nicht das allein. Auch nicht, dass ihn die Krankheit dem mondänen Dasein entriss. Dieses Asthma ist in seine Kunst eingegangen, wenn nicht seine Kunst es geschaffen hat. Seine Syntax bildet rhythmisch auf Schritt und Tritt diese seine Erstickungsangst nach. Und seine ironische, philosophische, didaktische Reflexion ist allemal das Aufatmen, mit welchem der Alpdruck der Erinnerungen ihm vom Herzen fällt. In grösserem Massstab ist aber der Tod, den er unablässig, und am meisten wenn er schrieb, gegenwärtig hatte, die drohende, erstickende Krise. So stand er Proust gegenüber und lange, bevor sein Leiden kritische Formen annahm. Dennoch nicht als hypochondrische Grille, sondern als "realite nouvelle", jene neue Wirklichkeit, von der der Reflex auf Dingen und auf Menschen die Züge des Alterns sind. Physiologische Stilkunde würde ins Innerste dieses Schaffens führen. So wird niemand, der die besondere Zähigkeit kennt, mit der Erinnerungen im Geruchssinn (keineswegs Gerüche in der Erinnerung!) bewahrt werden, Prousts Empfindlichkeit gegenüber Gerüchen für Zufall erklären können. Gewiss treten die meisten Erinnerungen, nach denen wir forschen, als Gesichtsbilder vor uns hin. Und auch die freisteigenden Gebilde der memoire involontaire sind noch zum guten Teil isolierte, nur rätselhaft präsente Gesichtsbilder. Eben darum aber hat man, um dem innersten Schwingen in dieser Dichtung sich wissend anheimzugeben, in eine besondere und tiefste Schicht dieses unwillkürlichen Eingedenkens sich zu versetzen, in welcher die Momente der Erinnerung nicht mehr einzeln, als Bilder, sondern bildlos und ungeformt, unbestimmt und gewichtig von einem Ganzen so uns Kunde geben wie dem Fischer die Schwere des Netzes von seinem Fang. Der Geruch, das ist der Gewichtssinn dessen, der im Meere der temps perdu seine Netze auswirft. Und seine Sätze sind das ganze Muskelspiel des intelligiblen Leibes, enthalten die ganze, die unsägliche Anstrengung, diesen Fang zu heben.