Katharina Grosse
* 1961, lebt in Berlin

Die Künstlerin verwandelte in Amden einfache, dunkle Stallungen in Orte für Malerei, ohne deren Zweck zu verändern oder zu verstecken. Die Kolonie «Grappenhof» hatte sich als Mikrogesellschaft verstanden, war aber in Bezug auf das Dorf eine Parallelgesellschaft gewesen. Das Strukturprinzip der Ausstellung war ebenfalls die Parallelität. Die beiden Stallungen wurden in jenem baulichen Zustand belassen, in dem sie von der Künstlerin bei ihrer ersten Ortsbegehung angetroffen worden waren. Die Räume wurden für die Ausstellung nicht vorbereitet; weder hat man sie gereinigt noch wurden eingelagerte Futtermittel oder Werkzeuge und Geräte weggeräumt. Der Landwirt nutzte seine Scheunen wie jeden Sommer.

Grosse liess durch einen Handwerker Einbauten vornehmen, die den Lichteinfall in den niedrigen Räumen thematisierten, und sprühte in diesen Strukturen je einen Farbton. Wahl und Verwendung der Farbe folgten keinen inhaltlichen Vorgaben, erwünscht war der betont freie Zugriff auf Bildanlage und Farbe. Eine Decke aus Gips in der einen und eine von der Decke hängende Raumecke aus Karton im anderen Gebäude bildeten die Träger, auf denen die Künstlerin arbeitete. Auf der Decke dehnte sich Orange über die ganze Fläche aus, auf dem eingebauten Raumsegment nahm das Rot die Form einer Figur an. Die Dimensionen von Haus, Einbau und Gemälde lagen sehr nahe beieinander; alle Elemente waren auf einen Blick erfassbar, blieben aber dennoch unverbunden und erzeugten deshalb auch nicht den Eindruck einer Installation. Katharina Grosse spricht rückblickend von einem Gefühl, als ob «ein Haus auf ein Bild gleicher Grösse» treffe. Diese Wirkung wurde durch die isolierte Lage der Gaden und die Weite und Erhabenheit der umgebenden Berglandschaft noch gesteigert. Tatsächlich fand beim Betreten der einzimmrigen Gebäude eine extreme Massstabsverschiebung statt. Der massiv gebaute, während Generationen bewirtschaftete Gaden und die leuchtende Malerei schienen für einen Augenblick derselben fiktiven Ordnung anzugehören. Grosse erzeugte neben dem faktischen Ort der Malerei einen zweiten Ort, einen Ort des Bildes, der im Unterschied zum Ort der Malerei ein Ort der Imagination ist.

Text: Roman Kurzmeyer, 1999

Download Pdf: «Reflexiv», Text von Roman Kurzmeyer
Erschienen in: Parkett, Nr. 74, Zürich 2005, S. 140-143.
www.katharinagrosse.com